Marcel Reich-Ranicki zum 100. : Worte, Worte, Worte
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Drei Feste im Quartett: Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler, Marcel Reich-Ranicki. Bild: Picture-Alliance
„Das literarische Quartett“ mit Marcel Reich-Ranicki lief im ZDF von 1988 bis 2001. Die Sendung kann uns bis heute einiges lehren. Auch über den Umgang mit Hassrede im Netz.
„Meine Damen und Herren, dies ist keine Talkshow. Was wir Ihnen zu bieten haben, ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte. 75 Minuten lang Worte und – wenn es gutgeht, das ist ein Ziel, aufs innigste zu wünschen – vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und Schriftsteller, also nichts anderes als Literatur.“
So leitete Reich-Ranicki am 25. März 1988 „Das literarische Quartett“ in dessen erster Ausgabe ein. Bis zur letzten Runde, die er am 14. Dezember 2001 moderierte, sollte sich an der Form nichts ändern: Vier Kritiker sprachen über Literatur und Literaten, über Werk und Autor oder Autorin und waren selten einer Meinung. Die Rollenverteilung benannte Hellmuth Karasek am Ende der ersten Selbstvorstellung (bei der sich Reich-Ranicki mehrere Minuten Zeit genommen hatte, um Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche zu würdigen), als es an ihm war, zu sagen, wer denn eigentlich der Gastgeber dieser Büchersendung im ZDF sei. Karasek stellte Reich-Ranicki als Literaturchef dieser Zeitung vor und – als „Literaturpapst“, der segne und verdamme. Diesen Ruf hatte sich Reich-Ranicki redlich erworben.
Was das Quartett verhandelte – im Laufe der Jahre auch häufiger mit Klara Obermüller und Iris Radisch anstelle von Busche und Löffler –, sollte keine Sendung für die Branche, sondern eine „für die Freunde der Literatur“ sein, wie Reich-Ranicki sagte. Allen anderen empfahl er, einen anderen Kanal einzuschalten. Anfreunden musste man sich freilich mit der Art von Literaturbetrachtung, wie Reich-Ranicki sie betrieb und sie Jochen Hieber, Literaturredakteur dieser Zeitung, zuletzt mit dem Verweis auf den Spruch des Wiener Literaten Anton Kuh beschrieben hat: „Warum denn sachlich, wenn es auch persönlich geht?“
Ums Persönliche ging es im „Literarischen Quartett“ stets, um den Abgleich zwischen fiktionalem Werk und dem Erzähler, was den Kontroversen des Quartetts zusätzliche Schärfe gab und den Beteiligten persönliche Bekenntnisse abverlangte, die für Reich-Ranicki selbstverständlich waren. Das gipfelte in einem Eklat, mit dem das „Literarische Quartett“ in seiner Originalausgabe bis heute verbunden ist.
Als es im Juli 2000 um den Roman „Gefährliche Geliebte“ des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami ging, gerieten Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über die Qualität der erotischen Szenen des Buchs derart persönlich aneinander, dass Löffler ihre Mitwirkung aufkündigte. Das Zerwürfnis trug dazu bei, dass das ZDF die Sendung im Jahr darauf beendete. Erst 2015 wurde sie wiederbelebt, zunächst mit Volker Weidermann, heute mit Thea Dorn als Gastgeberin. Sie gibt dem Gespräch über Literatur zwar ebenfalls eine persönliche Note, auch geht es um die persönliche Auffassungsgabe der Kritiker; zum Duell jedoch, wie es für Reich-Ranickis Sendung typisch war, kommt es eher nicht.
Wobei es in den achtziger und neunziger Jahren des Literaturfernsehens und insbesondere im „Literarischen Quartett“ nie nur um Werk und Person ging. In der Beschäftigung mit dem Kanon der zeitgenössischen Literatur und herausragenden Protagonisten wie Grass oder Walser wurden die gesellschaftspolitischen Themen der Gegenwart verhandelt, der Zeitgeist wurde kenntlich, die intellektuelle Verfassung der Geistesrepublik, für deren Beobachtung und Analyse der Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki nicht nur als „Literaturpapst“ so wertvoll war.
Heute findet man – jenseits des schmalen Erinnerungsprogramms, das ARD und ZDF zu Marcel Reich-Ranicki senden – im Netz Aufzeichnungen des „Literarischen Quartetts“ und anderer Sendungen mit ihm (etwa die Gespräche mit dem früheren SWR-Intendanten Peter Voß) bei Youtube und stößt dabei auf ein virulentes Problem der Internetöffentlichkeit. Wo immer Marcel Reich-Ranicki zu sehen ist, finden sich antisemitische Hetzredner ein und hinterlassen ihre Schmähungen.
Diese kann man bei Youtube melden und um Löschung ersuchen. Man muss ein Google-Konto anlegen, um Kommentare zu „flaggen“, also zu markieren, und angeben, warum man diese für falsch, ehrverletzend, verhetzend, rassistisch und antisemitisch hält. Der „Youtube Support für Rechtsfragen“ versteht das nicht immer. Wenn man es, wie wir, dutzendfach und über einen langen Zeitraum probiert, heißt es manchmal: „Die von Ihnen gemeldeten Inhalte wurden entfernt, da sie gegen unsere Community-Richtlinien verstoßen.“ Es kann aber auch sein, dass die Antwort lautet: „Bei der Überprüfung Ihrer Anfrage mit der Referenznummer ... konnten wir keinen ausreichenden Anlass für eine Einschränkung der beanstandeten URL(s) feststellen.“
Dann muss man es noch mal probieren, noch mal und noch mal. „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen“, zitierte Marcel Reich-Ranicki zum Ende seiner Sendung stets Bertolt Brecht. Auch wir sehen betroffen und stellen unsere Fragen immer weiter. So tat es Marcel Reich-Ranicki in dieser Zeitung und in seiner Sendung im ZDF.