„Kruso“ im Ersten : Freiheit, die keiner versteht
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Menschenfischer mit ganz eigenem Sozialismus: Kruso (Albrecht Schuch) gibt Schiffbrüchigen Halt, darunter auch Edgar (Jonathan Berlin, links). Bild: MDR/Ufa Fiction
Als aus dem „Summer of Love“ der Herbst der Geschichte wurde: Lutz Seilers Hiddensee-Roman „Kruso“ ist auch als Fernsehfilm eine echte Herausforderung.
„Lassen Sie sich treiben auf die Insel Hiddensee“, schreibt die MDR-Intendantin Karola Wille im Pressetext zur Verfilmung von Lutz Seilers Roman „Kruso“. Hat Sie vielleicht nur zu viele Pilcher-Filme gesehen, oder ist das doch etwas geschmacklos angesichts eines Stoffes, der von Fluchtversuchen aus der DDR über die Ostsee handelt, die viele nicht überlebt haben? Den Epilog des mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans, der fast sachbuchartig von der Recherche nach den namenlosen Toten in dänischen Archiven berichtet, lässt der Film aus, so viel vorneweg. Womöglich ist es daher hilfreich, hier zunächst kurz daraus zu zitieren: „Eine Statistik verzeichnete über 5600 Flüchtlinge, 913 davon erfolgreich, 4522 Festnahmen und mindestens 174 Todesopfer seit 1961, angeschwemmt zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark.“
Aber in gewisser Weise ist der Werbebroschüren-Satz über Hiddensee auch wieder triftig, denn als „Capri des Nordens“, ja als Quasiparadies erschien die Insel tatsächlich schon manchen Bürgern der DDR, weil es dort außer Sonne, Wald und Meer unter Künstlern und Dissidenten auch eine gewisse Freiheit gab, die man wohl nirgendwo sonst im Staat hatte – in Seilers Roman gilt sie gar als ein Ort, an dem man das Land verlassen konnte, ohne die Grenze zu überqueren.
Die Reibung zwischen jenen, die Hiddensee nur als Sprungbrett in den Westen sahen und jenen, denen der Aufenthalt auf der Insel schon Freiheit genug war, macht die Grundspannung des Romans aus – und im Film wird sie gleich zu Beginn gleich ganz dramatisch zwischen den beiden Protagonisten auf die Spitze getrieben: Edgar Bendler, ein Student aus Leipzig und verzweifelt nach dem Tod seiner Freundin, ist nachts am Strand von Hiddensee schon drauf und dran, ins Wasser zu gehen, als Alexander Krusowitsch, ein Saisonarbeiter in der Gaststätte „Zum Klausner“, ihn gerade noch davon abhält: Die Karten seien alle falsch, das rettende Ufer ferner als geglaubt.
„Kruso“, wie ihn alle nennen, ist ein heimlicher Herrscher der Insel, er hat schon viele von der Flucht abgehalten und aus seiner Sicht damit gerettet. „Schiffbrüchige“ nennt er sie, und gemeinsam mit dem Team des „Klausners“ gibt er ihnen während einer heimlichen und illegalen Einquartierung jeweils drei Tage lang Suppe, Lektüre und neuen Lebensmut zum Erschließen einer inneren Freiheit, die sie trotz allem in der DDR verweilen lässt.
Edgar aber wird viel länger als drei Tage bleiben – seine Annäherung an den charismatischen Sonderling Kruso und Initiation in die ursozialistische Gemeinschaft der freigeistigen Saisonkräfte macht der Roman zu einem märchenhaften und literarisch anspielungsreichem Erlebnis zwischen Daniel Defoe, Robert Louis Stevenson, Georg Trakl und vielen anderen Einflüssen, das besonders auf geteilter Lyrik-Leidenschaft beruht (in Trakls Sonja erkennen Ed wie auch Kruso ihren verlorenen geliebten Menschen).
Die Verfilmung von Thomas Stuber hält sich, bis auf ein paar innig aufgesagte Trakl-Zitate, eher an das ganz Handgreifliche: das Zwiebelschneiden, den ewigen Abwasch, der im Roman philosophische Dimensionen erhält, an eindrückliche Physiognomien und historisches Kostüm. Er fängt außerdem Sonnenuntergänge am Ostseestrand ein, bei denen nach Abfahrt der Tagestouristen die Verbliebenen wild und frei feiern, einmal auch zur Musik der DDR-Punkband „Feeling B“. Die Schiffbrüchigen sind zünftige Hippies mit schwelgerischen Blicken. Dieser nachgeholte „Summer of Love“ ist allerdings bald ein Herbst, nämlich der von 1989, und irgendwann dringen die Weltnachrichten auch bis zu dieser Insel durch, selbst wenn Kruso sie nicht hören will.
Glücklicherweise hat der Film zwei Hauptdarsteller, die ihn tragen. Albrecht Schuch, den manche vielleicht gerade noch glattrasiert aus „Bad Banks“ in Erinnerung hatten, spielt seinen blondbärtigen Kruso zwischen Jesus, Störtebeker und einem russischen Revolutionär – jedenfalls so, dass man ihm Menschenfischer-Qualitäten gern bescheinigt und die im Roman oft beschworene „Kruso-Energie“ spürt. Jonathan Berlin zeigt in seinem Ed die Entwicklung von grundverstörter Sanftheit hin zu schuldfähiger Leidenschaft ebenfalls überzeugend. Dass die beiden mehr verbindet als die Liebe zur Literatur, kommt gut, dabei nicht zu plakativ heraus. Auch das Ensemble der Klausner-Kommune, darunter Peter Schneider als Oberkellner mit dem Spitznamen „Rimbaud“ und Thomas Lawinky als Koch Mike, macht seine Sache gut.
Dennoch stimmt manches mit dem Film nicht – auch abgesehen davon, dass er nicht auf Hiddensee, sondern in Litauen gedreht wurde. Das ist zum einen die Länge: In hundert Minuten wirkt fast alles gequetscht, sind gut und aufwendig konzipierte Szenen immer schon vorbei, wenn sie gerade erst angefangen haben. Mindestens die doppelte Länge (wie bei der Verfilmung von Tellkamps „Turm“) wäre angebracht gewesen. So sieht man sich zwischen überraschenden Regie-Einfällen (ein Gespräch kippt plötzlich in eine Art Musikvideo zu dem schönen Silly-Lied „Batallion d’Amour“) oft hin-und hergerissen, ohne sie angemessen aufmerksam würdigen zu können.
Die größeren Themen des Romans, insbesondere der Streit um Krusos eigentümlichen Freiheitsbegriff, schrumpfen so zu Sprechblasen. Schlimmer aber ist, dass selbst diese kaum verständlich sind: Der Ton ist stellenweise katastrophal. Wann zieht der Sender endlich Schlüsse aus dem schon anhand des „Tatort“ oft verhandelten Nuschel-Problem? Auch hier wird man dadurch wohl manche Zuschauer verlieren, besonders solche, die den Roman nicht kennen und so das Wesentliche nicht verstehen.