Interview mit Günter Wallraff : Nach einer Weile träume ich in meiner neuen Identität
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„Ein schwer zu observierendes Allerweltsgesicht“: Seit fünfzig Jahren ist Günter Wallraff undercover unterwegs. Bild: Stefan Boness/Ipon
Vor dreißig Jahren kam sein Buch „Ganz unten“ heraus, in dem Günter Wallraff von seiner Sklavenarbeit als Türke „Ali“ berichtete. Die Wirkung war groß. Was hat sich seither verändert? Ein Gespräch mit dem Rollenspieler, der bis heute unerkannt bleibt.
Vor dreißig Jahren haben Sie Ihr Buch „Ganz unten“ herausgebracht. Hatten Sie da die härteste Zeit Ihres Lebens hinter sich, als Leiharbeiter „Ali“?
Von der physischen Belastung her war das sicherlich das Härteste. Danach hatte ich Bandscheibenprobleme, und meine Bronchien waren geschädigt. Vorher lief ich einen Marathon in zwei Stunden fünfzig Minuten. Danach war ich froh, noch eine halbe Stunde am Stück laufen zu können. Von den Arbeitern, die diesen Giftstäuben über Jahre ausgesetzt waren, sind inzwischen viele verstorben, sie wurden nicht älter als sechzig Jahre. Der Menschenhändler, bei dem ich mich damals verdingt habe, hatte türkische Arbeiter auch ohne Strahlenschutz in ein Kernkraftwerk geschickt. Im Kollegenkreis sprach man vom „Verheizen“. Von der psychischen Belastung her war aber meine Rolle als Hans Esser bei der „Bild“-Zeitung belastender. Dort musste ich mich mehr verleugnen, das war wie eine freiwillige Gehirnwäsche.
Wie kamen Sie darauf, „Ali“ zu werden – unter Umständen, die man Sklavenarbeit nennt?
Ich hatte zur Situation der sogenannten Gastarbeiter schon vorher einiges veröffentlicht. Ich wohne in Köln-Ehrenfeld, einem Stadtteil, in dem jeder Dritte, Vierte ein Zugereister ist – Italiener, Ex-Jugoslawen, Griechen, Türken. Das ist ein Viertel, in dem man sich friedlich zusammengerauft hat, das Gegenteil von dem, was der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky in dem Buch „Neukölln ist überall“ beschreibt – Ehrenfeld ist nicht Neukölln, und Neukölln ist nicht überall. Nachbarn erzählten von Verwandten, die über entwürdigende Arbeitsbedingungen berichteten, aber Angst hatten, ihren Job zu verlieren. Ich habe eine Annonce aufgegeben: Ausländer, kräftig, sucht Arbeit jeder Art. Und bin dann in einer Arbeitskolonne gelandet. Ich wusste nicht, was auf mich zukommt. Wenn ich einmal in einer Rolle drin bin, bleibe ich, solange ich es aushalte, auch dabei. Ich war der Türke „Ali“, und der konnte nicht einfach hinschmeißen. Außerdem hätte ich das als Feigheit und als Verrat an meinen Kollegen empfunden.
Sie identifizieren sich mit Ihren Rollen derart, dass Sie sogar in ihrer angenommenen Existenz träumen.
Das ist nicht bei allen Rollen der Fall, nur bei denen, die ich für eine längere Zeit übernehme. Nach einer Weile bin ich in meiner neuen Identität. Und meine eigene fällt von mir ab wie Schlacke. Was mir dabei hilft: Ich habe nicht gerade ein übertriebenes Ego. Ich identifiziere mich mit den Schwachen und Geschlagenen und kann mich sehr gut in ihre Lage versetzen. Wenn ich im konkreten Fall mit so etwas konfrontiert werde, entsteht bei mir das Bedürfnis, mich einzumischen und zu helfen. Heute kann ich das, auch ohne eine Rolle anzunehmen.
Woher rührt Ihr Gerechtigkeitsempfinden? Hatten Sie das von Kindesbeinen an?
In einem Tagebucheintrag aus meiner Jugendzeit, den ich gefunden habe, der mich ein wenig erschreckt hat, schreibe ich als Siebzehnjähriger die Sätze: „Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner. Locke meinem Wesen immer neue Masken hervor. Ich warte darauf, die Maske zu finden, die sich mit meinem ursprünglichen Gesicht deckt. Ich glaube, sie längst schon unbemerkt getragen zu haben. Oder sie niemals zu finden, da sich mein Gesicht der jeweiligen Maske anpasst.“ Meine Rollen waren nie Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, den ich unter meinem eigenen Namen, vor dem in steckbriefähnlichen sogenannten Unternehmer-Warnbriefen von einer Einstellung abgeraten wurde, nicht mehr erreichen konnte.