Filme aus dem Lockdown : Wir sind zurückgeworfen auf uns selbst
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Rachel Morrison überblendet Erinnerungen an ihre eigene Kindheit mit den Geschichten ihres Sohnes. Bild: Netflix
In „Homemade“ berichten achtzehn Filmemacher von ihrem Leben im Lockdown. Sie erzählen von sich und von ihren Familien, inszenieren Komödien und kleine Dramen. Darin kann sich ein jeder selbst wiederfinden.
Mit wachsender Selbstverständlichkeit wagen wir uns hinaus in die sogenannte neue Normalität, weiten Schritt für Schritt unsere Bewegungsräume, bewehrt mit Accessoires und Verhaltensweisen, die uns veränderten Normen unterwerfen: Mund-Nasen-Schutz, soziale Distanz und latente Angst, bis auf weiteres. Wo die Zahl der Infektionen mit Covid-19 nicht abermals in die Höhe schnellt, erscheint die Phase des Lockdowns schon fast wie ein abstruser Traum, aus dem wir eben erst erwacht sind.
Nur dass das kein Hirngespinst war. „Wie wird es sich anfühlen, wenn wir darauf zurückschauen?“, sinniert der Regisseur David Mackenzy in einem Kurzfilm aus der Familienquarantäne in Glasgow. Normalerweise hat er ein Faible für Neo-Western oder epische Historienfilme mit großem Budget, jetzt fängt er mit dem Smartphone ein, wie seine Teenager-Tochter im Lockdown durch ein seltsames Zwischenreich mehr schwebt, als wäre das Navigieren zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt nicht schon anstrengend genug. Mackenzy fragt: „Was ist wesentlich?“
Ja, große Fragen drängen sich zwangsläufig auf, wo Menschen aus der Weite unendlicher Möglichkeiten in die Enge der eigenen (oder fremder) vier Wände gedrängt sind, allein mit sich oder den Nächsten, auf paradoxe Weise eingefriedet von einem unablässigen Nachrichtenstrom aus Gefahrenmeldungen. Mitten in der nächsten Phase der Pandemie ist die Zeit für Rückblicke auf diese erste angebrochen. Die siebzehn Kurzfilme aus der erzwungenen häuslichen Beschränkung aber, die Regisseure aus aller Welt unter dem Titel „Homemade“ für Netflix gedreht haben, sind mehr als blasse Schaumkronen auf dem Meer der Corona-Tagebücher. Manche von ihnen sind sogar kleine Kostbarkeiten. Dafür sorgt schon die Auswahl der für das Projekt Gewonnenen. Ihre Miniaturen eröffnen immer neue Sichtweisen auf die in ihrer Allgegenwart banal gewordenen Themen: Vereinzelung und Lagerkoller, die Unwirklichkeit des Erlebten, die tröstliche Wirkung von Selbstgemachtem, sei es im Garten, in der Küche oder eben mit der Kamera, vor allem aber die verbindende Kraft der Imagination, die „Homemade“ feiert, heiter, verstörend, anrührend, anklagend – oder sich selbst bemitleidend.
Paolo Sorrentino träumt sich einmal mehr in den Vatikan, wo zwei schon im Normalfall in ihrer persönlichen Freiheit maximal beschränkte Souveräne in der Quarantäne vereint miteinander flirten. Der Papst und Königin Elisabeth, das sind zwei Plastikfigürchen mit Winkehänden. Von Sorrentino im Bücherregal, Blumentopf oder am Spülbecken plaziert, sitzen die beiden komischen Figuren in der Bibliothek, den vatikanischen Gärten oder am Pool und seufzen bedeutungsschwer, Rom sei leer, verzweifelt, einsam wie sie selbst. Melancholischer lustig war Sorrentino nie. Wozu sonst immer der Pomp?, mag man fragen. Auch sein chilenischer Kollege Pablo Larraín („Jackie“) ist zum Süßholzraspeln aufgelegt. „Last Call“ heißt sein Elfminüter, in dem Jaime Vadell einen Schwerenöter im Altersheim spielt, der per Videotelefonat eine alter Flamme nach der anderen neu zu entfachen sucht. Gedreht natürlich per Videotelefonat. Den umgekehrten Weg geht Rungano Nyoni. In Lissabon auf ein Minimum an Produktionsmitteln beschränkt, inszeniert sie die Trennung eines Paars als Messenger-Chat.
Mehr als eine gute Pointe braucht ein Kurzfilm nicht. Das beweist auch der Beitrag von Sebastian Schipper aus Berlin. Aufwachen, Zähneputzen, in den Laptop starren, Nudeln kochen, ein trauriges Liedchen singen („There’s something wrong ...“) und dabei immer sich selbst begegnen, erst einfach, dann zweifach, dreifach, das ist die Essenz der Quarantäne eines erst einmal in gesicherten Verhältnissen lebenden Menschen, von Schipper selbstironisch eingefangen. Man schaut ihm deutlich lieber zu als Kristen Stewart, deren Ein-Personen-Stück aus Los Angeles ihr eigenes Gesicht als das einer Eingesperrten zeigt. Übernächtigt, von Fluglärm und Grillenzirpen gemartert, will sie nur eines: „eine kleine Pause“.
Der Rückzug vor der Pandemie, bei Maggie Gyllenhaal wird daraus die phantastisch-apokalyptische Kurzgeschichte eines allein irgendwo in den Wäldern Vermonts hausenden Mannes, dem ein Baum statt eine Partnerin geblieben ist, und auf den es tote Fische regnet, weil ein Virus das Sonnensystem befallen und die Gravitation in Unordnung gebracht hat. Bei Naomi Kawase in Tokio entsteht ein mit Zeitlupen, extremen Nahaufnahmen und Kameraschwenks inszenierter Beinahe-Katastrophenfilm. Ana Lily Amirpour dagegen steuert vordergründig Eskapismus bei. Die Radtour einer Frau durch Los Angeles im Lockdown ist eine lyrische Dokumentation und eine Etüde über Perspektiven, begleitet von Cate Blanchett als Erzählerin. Bei „Homemade“ ist für alle etwas dabei.
Und dann sind da die Kinder, mit denen die Filmemacher viel mehr und viel intensiver Zeit verbracht haben als sonst. Der drängende Wunsch, für sie unbelastete Erinnerungen an das Leben unter Corona-Bedingungen zu schaffen, spricht aus vielen Beiträgen. Rachel Morrison überblendet dazu die Erlebnisse ihres eigenen fünfjährigen Selbst mit dem ihres Sohnes. Johnny Ma kocht die Teigtaschen, die seine Mutter immer zum chinesischen Neujahrsfest zubereitet hat – und verrät das Rezept. Andere Eltern schauen einfach nur zu und halten den Atem an, wenn ihre Jüngsten die schlafwandlerische Sicherheit beim Erfassen der Situation offenbaren. Am siebenundfünfzigsten Tag der Quarantäne in Beirut kommt mitten in der Nacht Khaled Mouzanars Tochter in sein Arbeitszimmer und beginnt einen improvisierten Theatermonolog der ängstlichen Selbsttröstung rund um ein Einhorn, das Eingeschlossensein, das Getrenntsein von anderen. Klüger als sie sind wir alle nicht.
Homemade läuft bei Netflix.