FAZ.NET-Frühkritik : Jede Schnappatmung unterdrückt
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Entzaubert durch Argumente: Sarrazin (rechts) Bild: dapd
Die faire und live übertragene kontroverse Debatte mit Thilo Sarrazin ist das einzige Mittel, seinen Mix aus Vorurteilen und Statistiken zu entzaubern. Peer Steinbrück ist dies bei Jauch gelungen.
Wer Thilo Sarrazins Thesen und Vorurteile bekämpfen möchte, muss sie studieren und sich der Debatte stellen. Es gibt keinen Grund, ihn etwa in einer großen Sonntagabendtalkshow nicht einzuladen, das wäre obendrein töricht, denn erst durch den versuchten Ausschluss gewinnt der Mann Anhänger, das ist im Lande Luthers ein ganz alter Reflex.
Was mag die Grünen-Chefin Renate Künast nur dazu bewogen haben, wegen dieser Sendung in der „Bild am Sonntag“ die ARD zu kritisieren und ihr mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag zu kommen? Dass sein voriges Buch von der Kanzlerin und anderen verworfen wurde, bevor Gelegenheit war, es zu studieren - das war beim letzten Mal ein taktischer Fehler, der Sarrazin schwer geholfen hat. Nun auch noch einen Sender für eine Sendung anzugreifen, die noch gar nicht stattgefunden hat, das wirkt wie von Sarrazin bestellt.
Auch die berüchtigten Anonymous-Aktivisten wurden aufgerufen, etwas gegen den Auftritt zu unternehmen, leiteten diesen Tweet auch an ihre Follower weiter, aber es geschah dann ja doch nichts. Zum Glück. Die faire und live übertragene kontroverse Debatte mit ihm ist das einzige Mittel, seinen Mix aus Vorurteilen und Statistiken zu entzaubern. Denn Aufklärung vollzieht sich ja nicht – und vollzog sich noch nie - im Tirilieren schöner Geister gleichen Sinnes unterm Kirschbaum, es ist stets ein Kampf, stets hardcore.
Im sogenannten Gasometer zu Berlin wurde es dann gar nicht so schlimm wie befürchtet. Peer Steinbrück hatte das Buch gelesen, verstanden und kritisiert, er nahm Sarrazin auch gegen den Vorwurf in Schutz, ein gefährlicher Mann zu sein – machte ihm aber schwer wiegende Vorhaltungen. Sarrazin beschreibe zwar zutreffend den Geburtsfehler des Euro, nämlich das Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurozone, habe aber keine Konzepte für die gegenwärtige Lage und schon gar keine für die Zukunft. Es war die Arbeit eines Schachspielers.
Auf diesem Gebiet hilft nur Präzision
Sarrazin blieben nur noch zwei Felder: Er konnte auf das Hypothetische ausweichen – was wäre gewesen, wenn wir die D-Mark behalten hätten – und Fehler der Vergangenheit anprangern: Wäre besser gewesen, die Griechen hätten seinerzeit dies und jenes getan. Doch das ist ein recht beengter Raum für einen politischen Kopf.
Steinbrück konnte sein wichtigstes Argument anbringen: für die gegenwärtige Lage bietet Sarrazin keine Konzepte, er formuliert nur Thesen, die man nicht verifizieren oder falsifizieren kann, ohne mit dem Schicksal von Millionen zu experimentieren. Als hilfreich erwies es sich auch, den Autor mal genau danach zu fragen, was nun eigentlich der Holocaust mit der Sache zu tun hat und inwiefern der auch als folkloristischer Kostenfaktor weggerechnet gehört.
Hier war es ganz gut, dass sowohl Steinbrück wie Jauch jede Schnappatmung unterdrückt haben und cool geblieben sind in ihren Fragen, Sarrazin wurde umso fahriger. Man muss das aber besprechen, auf diesem Gebiet hilft nur Präzision. Am Ende der Sendung stand der nach eigener Selbstdarstelllung so rationale, auf Fakten und Daten bezogene Fachmann als der eigentlich Sentimentale da, der seinen Vorurteilen und Emotionen freien Lauf lässt, wenn ein warmer Südwind weht.
In Wahrheit eine versteckte Autobiographie
Vielversprechend verspricht die Lektüre seiner Ausführungen über eine südländische Finanzverfassung zu werden, die eine Ignoranz der römischen Geschichte offenbaren könnte: Kaum jemand ist in lateinisch geprägten Kulturen so gefürchtet wie der Quästor. Und in Frankreich zählen die hohen Beamten des zentralen Rechnungshofes – der cour des comptes – seit Jahrhunderten zu den geachtetsten Staatsdienern.
In Wahrheit wird auch dieses Buch von Sarrazin als eine versteckte Autobiographie zu lesen sein: Was wäre gewesen, wenn man mehr auf mich gehört hätte, wie leuchtend hell war es damals, als ich jung war und sofort. Viele sind in seinem Alter, teilen seine Nostalgie. Peer Steinbrück kommt das Verdienst zu, den Autor - sine ira et studio – wieder ins das richtige Bücherregal sortiert zu haben, denn keine politische Diagnostik hat er geschrieben, sondern melancholische Memoiren.