Dokumentation „Dunkelgräfin“ : Ein Leichenschauermärchen
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Ist sie die „Dunkelgräfin“, begraben im thüringischen Hildburghausen? Bild: Archiv
Sensationsgier kennt kein Tabu: Der Mitteldeutsche Rundfunk lässt die „Dunkelgräfin“ exhumieren. Man will herausfinden, ob es sich um Marie Thérèse, die Tochter Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, handelt.
Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Wenn neben „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ noch etwas von der Französischen Revolution im allgemeinen Bewusstsein geblieben ist, dann dieser weltfremd törichte Satz, den Königin Marie Antoinette angesichts protestierender Massen geäußert haben soll. Generationen von Historikern haben bewiesen, dass sie nie dergleichen sagte. Doch die Faszination der genialen Erfindung blieb stärker - für die Welt ist Frankreichs letzte Königin ein flatterhaftes Luxusgeschöpf, mit dem es nicht anders enden konnte als auf dem Schafott.
Viele unserer Vorstellungen vom blutigen Umsturz in Frankreich wurzeln in solchen Erfindungen. Die bekanntesten sind die Romane von Alexandre Dumas, Victor Hugo und Honoré de Balzac, die hartnäckigsten fußen auf Pamphleten, die 1789 in Paris kursierten. Sie machten zum Beispiel Marie Thérèse, die Tochter Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, zu dem, was uns das Findelkind Kaspar Hauser ist, der vielleicht ein Erbprinz von Baden war, den machtgierige Verwandte bei der Geburt 1812 mit einem toten Säugling vertauscht und jahrelang in Dunkelhaft gehalten haben sollen.
Die verschleierte, schwarzgekleidete Dame
Von der Königstocher, die als einzige ihrer Familie die Revolution überlebte, heißt es, sie sei 1795 durch eine Doppelgängerin ersetzt worden und habe bis zu ihrem Tod als anonyme Gräfin im thüringischen Hildburghausen Zuflucht gefunden. Was Wunder also, dass nun der MDR Thüringen eine Dokumentation ankündigt: Von Kameras beobachtet, sollen die Gebeine der Hildburghausener Rätselfrau exhumiert und mittels Gen-Analytik, Anthropologie und Genealogie als die der Marie Thérèse identifiziert werden. Vor ein paar Tagen unterschrieben die Stadt und der MDR eine Vereinbarung zur Vorgehensweise. In ihr ist auch festgelegt, dass beide Seiten bis zur Ausstrahlung über die Ergebnisse schweigen werden.
Den geplanten, reißerisch wirksamen Titel „Dunkelgräfin“ verdankt der MDR keinem Marketingstrategen, sondern dem Erfindungsgeist kollektiver Neugier im Jahr 1807. Damals traf in Hildburghausen eine verschleierte, schwarzgekleidete Dame mit Begleiter ein, die im nahen Schloss Eishausen Wohnung nahm. Das Gerücht, sie sei von Adel, mündete im Gemunkel, es handele sich um die Tochter Ludwigs XVI. Es hielt sich, als die Dame 1837 starb und, den Angaben ihres Begleiters gemäß, als Sophie Botta am Hildburghausener Schulersberg bestattet wurde.
Galionsfigur der Royalisten
Über jene Sophie Botta weiß man bis heute nichts. Doch zu Marie Thérèse gibt es eine Fülle handfester Fakten: Aufgewachsen am Hof von Versailles, wurde sie 1791 mit ihren Eltern und ihrem Bruder, dem Dauphin Louis Charles, im Pariser Temple inhaftiert. 1795 übergab man sie in Basel im Austausch gegen französische Kriegsgefangene an Österreich. Fortan lebte sie am Wiener Hof, heiratete einen Bourbonen und wurde als „Madame Royale“ zur Galionsfigur der Royalisten. Sie starb 1851 und liegt im Franziskanerkloster Kostanjevica in Slowenien begraben.
So weit die gesicherten Daten. Doch den MDR inspirierten eher die Hetzkampagnen der Revolutionäre und Royalisten von 1789, die letztlich auch den Nährboden für die Fama von der „Dunkelgräfin“ waren. Alles begann mit der Diffamierung der Bourbonen: Eine der perfidesten Verleumdungen war die, Marie Antoinette habe ein inzestuöses Verhältnis zu ihrem Sohn unterhalten. Die Royalisten konterten, das Geständnis des Siebenjährigen sei erpresst worden. Um dem Argument Wucht zu geben, erklärten sie, man habe den Jungen (was Historiker für durchaus möglich halten) sogar gefoltert.
Von Marie Thérèse hieß es, sie sei immer wieder von ihren Kerkermeistern vergewaltigt worden, habe eine Fehlgeburt erlitten und sei seelisch und körperlich zerrüttet als Schatten ihrer selbst in Wien angekommen. Das klingt nicht abwegig, weiß man doch beispielsweise von ihrem Bruder Louis Charles, dass er 1793 nach der Hinrichtung seiner Eltern dem Schuster Antoine Simon übergeben wurde, der ihn mit Hunger und Prügel zum „guten Bürger“ dressierte. Als Simon 1794 wegen Jakobinertums die Guillotine besteigen musste, kam der Junge abermals in den Temple, wo er 1795 entkräftet starb.