Doku über Nazi-Wissenschaftler : Der akademische Sündenfall
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Sichtlich stolz darauf: Seine SS-Offizierskappe diente dem Archäologen Gustav Riek als beliebtes Fotomotiv. Bild: Arte
Wenn Forscher zu Mördern werden: Der Arte-Dokumentarfilm „Blut und Boden. Nazi-Wissenschaft“ zeigt, wie die Rassenideologie der Nazis mit Scheinwissenschaft untermauert wurde.
Vor zehn Jahren starb in Königstein im Taunus der Anthropologe Bruno Beger. Der Pseudowissenschaftler, der als Menschenvermesser in den Jahren 1938/39 an der Tibet-Expedition der SS-Forschungsinstitution „Ahnenerbe“ teilgenommen hatte und von den frühen vierziger Jahren an im Zuge seiner abstrusen Habilitations-Grundthese – nordische Arier sollen in grauer Vorzeit nach Innerasien gewandert und dort zum Genpool für die spätere Elite geworden sein – in perverse Massenmorde im Namen der Forschung verwickelt war, wurde biblische achtundneunzig Jahre alt.
Zwei Gerichtsprozesse hatte Beger mehr als glimpflich überstanden. Im Jahr 1960 kam er in Frankfurt am Main in Untersuchungshaft, doch seine Mitwisserschaft an der Ermordung von 86 Menschen, die er und sein Kollege Hans Fleischhacker im Jahre 1943 persönlich im Konzentrationslager Auschwitz ausgewählt hatten, konnte nicht nachgewiesen werden. Der Nazijäger Fritz Bauer, der davon überzeugt war, Beger habe immer gewusst, dass die Selektierten – vor allem europäische Juden, kaum Asiaten – getötet werden und ihre Skelette als wissenschaftliche Anschauungsobjekte dienen sollten, ließ 1970 eine neue Anklageschrift ausarbeiten, die freilich auch nur zu einer Verurteilung von drei Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord führte. Die Strafe galt aufgrund der Internierungshaft Begers nach 1945 als abgegolten.
Eine Entlastungslüge zugunsten von Beger
Als Hauptschuldiger für die Morde, für die im KZ Natzweiler im Elsass eine eigene Gaskammer erbaut wurde (die Körper sollten unversehrt bleiben), galt der Direktor des Anatomischen Instituts der sogenannten Reichsuniversität Straßburg, August Hirt. Zweifellos hat Hirt Medizinverbrechen begangen; auch fanden sich die zerstückelten Leichen bei der Befreiung Straßburgs in seinem Institut. Belastet wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr lebende Hirt in den Nürnberger Ärzteprozessen nicht zuletzt von Wolfram Sievers, dem Leiter des „Ahnenerbes“.
Doch bereits in den siebziger Jahren sah der kanadische Historiker Michael Kater darin auch eine Entlastungslüge zugunsten von Beger: SS-Kameraden schützten sich gegenseitig. Jüngst machte der Historiker Julien Reitzenstein diese Ansicht mit einer Studie abermals zu Thema. Allerdings stieß er damit auch auf Kritik (F.A.Z. vom 20. Februar). Nun arbeitet ein französischer Dokumentarfilm mit dem (im Deutschen unglücklich salopp wirkenden) Titel „Blut und Boden. Nazi-Wissenschaft“ die Ereignisse filmisch auf. Kater findet als einer der Experten darin klare Worte: „Forschungsergebnisse auf Massenmord zu gründen ist der tiefste Abgrund der Verdorbenheit.“
Es braucht dazu nicht einmal Zwang
Mit der Schuldverteilung zwischen Beger und Hirt hält der Film sich nicht lange auf: Beide gelten gemeinschaftlich als Täter. Bei der Einschätzung des Zeugen Henri Henripierre, eines Assistenten Hirts, der die eintätowierten Nummern der Toten und damit einen Hinweis auf ihre Identität notiert hatte, übernimmt der Film indes wenig kritisch den von Henripierre selbst in die Welt gesetzten und inzwischen, etwa von Reitzenstein, stark angezweifelten Mythos vom Widerständler im System. Entscheidend ist das aber nicht.
Mit den Morden im Elsass war die „Nazi-Wissenschaft“ auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt, im innersten Kreis der Hölle. Die (bislang teils ungezeigten) Bilder, die uns David Korn-Brzoza zumutet, sind häufig schwer zu ertragen, und doch ist der nach französischer Dokumentarfilmmanier auf die Vermittlung von viel Faktenwissen abzielende Film notwendig, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie leicht selbst namhafte Forscher korrumpierbar sind. Es braucht dazu nicht einmal Zwang, es genügt ein falscher akademischer Ehrgeiz, wie der Historiker Peter Schöttler mit Blick auf die promovierten Wissenschaftler in SS-Einsatzgruppen herausstellt. Wie es zu dieser Situation kommen konnte, versucht die Dokumentation in der ersten Hälfte zu beantworten. Dabei spielt die 1935 auf Anregung des Reichsführers der SS und Esoterikers Heinrich Himmler gegründete „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.“ eine entscheidende Rolle, weil damit der Anspruch verbunden war, die nationalsozialistische Rassenideologie vom „arischen Herrenmenschen“ (schein)wissenschaftlich zu unterfüttern.
Archäologen und Germanisten, die weltweit nach Swastikas suchten und von einer jahrtausendealten deutschen Kultur als Wiege der Zivilisation phantasierten, könnte man für drollig und bizarr halten, aber Korn-Brzoza macht deutlich, wie eng diese Versuche mit der Herausbildung einer von aller seriösen Wissenschaft abgekoppelten, bald zu immer grausameren Exzessen führenden „völkischen Identität“ zusammenhingen.
Hinzu kamen die kaltblütigen Versuche der Wehrwissenschaften, in denen reihenweise vermeintliche „Untermenschen“ ermordet wurden, indem man sie hohem Druck, eiskaltem Wasser, Senfgas, Phosgen oder Typhus aussetzte. Die Durchdringung aller akademischen Disziplinen mit menschenverachtender Ideologie hatte ein solches Ausmaß erreicht, das macht der Film deutlich, dass es bei aller individuellen und oft ungesühnten Schuld (etwa Begers) gefährlich naiv wäre, von Einzeltätern oder sadistischen Monstren zu reden. Das Wissenschaftssystem selbst kann im Kern verfaulen. Die Folgen umreißt der Historiker Yves Ternon mit bewegenden Worten: „Wir müssen uns klarmachen, das wenn eine Ideologie wie die der Nazis sich durchsetzt, die ganze Welt in Gefahr ist.“ Angesichts des allseits wieder steigenden Zuspruchs zum Nationalismus gibt es für die Anhänger der Aufklärung keinen Grund, sich auf der sicheren Seite zu wähnen. Das Wissen muss nicht nur hinterfragt, es muss mitunter auch verteidigt werden.
Blut und Boden. Nazi-Wissenschaft läuft heute, um 20.15 Uhr, auf Arte.
