Webserie „Skam“ : Die Norweger machen das Netz unsicher
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Prösterchen: Die fünf jungen Damen von „Skam“ sind eine Klasse für sich. Bild: NRK P3
Eine Jugendserie aus Oslo begeistert zur Überraschung aller ein Publikum in der ganzen Welt. Sie weiß genau, was junge Leute interessiert und wie man sie erreicht: „Skam“ zieht alle digitalen Register.
Fisch, Erdöl, Skifahrer – klar, das kommt aus Norwegen. Dass aber die wohl innovativste Jugendserie der Welt an einer Osloer Schule spielt, weiß in Deutschland kaum jemand. In den skandinavischen Ländern dagegen ist „Skam“ („Scham“) seit dem vergangenen Jahr ein großes Thema. Mädchen wollen aussehen wie Noora (Josefine Pettersen) und ahmen deren ausgefallenen Neunziger-Jahre-Retrostil nach; wallfahrende Fans stören den Unterricht an der Hartvig-Nissen-Schule, wo die Serie gedreht wird; junge Dänen wollen plötzlich Norwegisch lernen. Auch die Einschaltquoten sind beeindruckend: Die dritte Staffel der Serie haben im Schnitt knapp 800 000 Menschen gesehen. Das sind rund 15 Prozent der rund 5,3 Millionen Einwohner Norwegens – ein ungeahnter Erfolg für eine nicht besonders teuer produzierte Jugendserie des öffentlich-rechtlichen Fernsehens NRK in Zeiten von Netflix und Co.
Da verwundert es nicht, dass Justus Riesenkampff, der für die Vertriebsfirma Beta Film in Oberhaching bei München arbeitet und die Serie international vermarktet, von einem „unfassbaren Interesse weltweit“ an den Rechten für die Serie berichtet. Dank der NRK-Mediathek und unzähliger Videos mit Übersetzungen und Interpretationen, die ausländische Enthusiasten auf Youtube hochgeladen haben, hat „Skam“ schon jetzt weltweit Fans, in Dänemark und Schweden, in anderen europäischen Ländern, in den Vereinigten Staaten und in Asien.
Die Geschichten, die „Skam“ erzählt, treffen den richtigen Ton. Junge Norweger rühmen die Serie für ihre Authentizität: So geht es uns auch, lautet der Tenor. In der ersten Staffel stand das Sozial- und Beziehungsleben von Eva (Lisa Teige) im Vordergrund. Zum nationalen Thema wurde „Skam“, als sich Noora in der zweiten Staffel in den rätselhaften Beau William (Thomas Hayes) verliebte. In der dritten Staffel ging es dann hauptsächlich um den homosexuellen Isak (Tarjei Sandvik Moe) und seinen schwierigen Weg aus dem freikirchlichen Elternhaus zum Coming-out – damit verschaffte sich „Skam“ auch international Aufmerksamkeit.
Nun, in der vierten und letzten Staffel, die kürzlich angelaufen ist und die Serie abschließt, steht Sana (Iman Meskini) im Mittelpunkt: eine selbstbewusste und durchsetzungsstarke, bisher aber stets auch etwas undurchsichtige muslimische Kopftuchträgerin, die im Spannungsfeld zwischen ihrem traditionell eingestellten Elternhaus und der liberalen norwegischen Gesellschaft steht. An die Quoten der dritten Staffel reichen die Zahlen bisher nicht ganz heran. Vor dem Finale ist der Hype etwas abgeflaut. Dennoch spricht NRK-Redaktionschef Håkon Moslet in der Zeitung „Aftenposten“ noch immer von „unfassbar guten Zahlen für norwegische Verhältnisse“.
Das liegt auch an der Art und Weise, wie die Serie ihre Themen verhandelt: Die Identitätsfindung einer jungen Muslimin, sexuelle Übergriffe, sozialer Anpassungsdruck, der Umgang mit Homosexualität – was sich wie der Auszug aus einem Tagungsprogramm der Heinrich-Böll-Stiftung liest, ist keine Agenda. „Skam“ lässt Raum für Ambivalenzen. Die Vieldeutigkeit ist strukturell angelegt: In jeder Staffel folgt der Zuschauer strikt der Perspektive des jeweiligen Hauptprotagonisten und teilt dessen persönliche Wahrnehmung.
„Skam“ unterscheidet von anderen Jugendserien auch, dass die Macher der Serie sich intensiv mit ihrem Stoff und ihrer Zielgruppe beschäftigt haben. Die Verantwortlichen recherchierten monatelang und befragten Jugendliche zu ihrer Lebenswelt – mit Erfolg. Die Protagonisten leben in der Wohlstandsblase des Osloer Westens, sind aber keine wandelnden Klischees. Sie sind Schüler, die alle eine besondere Geschichte zu erzählen haben, egal ob sie Porsche fahren oder Kopftuch tragen. Dabei haben die einen mit Mobbing, die anderen mit ihren Eltern oder dem anderen Geschlecht zu kämpfen – und sie hängen ziemlich viel an ihren Smartphones. Glaubwürdig wirkt die Serie auch dadurch, dass alle Darsteller in etwa so jung sind wie ihre Figuren. Für die Nachwuchsschauspieler – vorher allesamt unbekannt – erwies sich „Skam“ als ideale Startrampe für die Karriere.
Zum Hit hat „Skam“ aber auch die konsequente Ausrichtung auf die Smartphone-Kultur gemacht. „Skam“ ist eine Webserie: NRK publiziert im Netz jeweils einzelne Clips von wenigen Minuten Länge, und zwar zu der Tageszeit, in der die Videos spielen – bei Schulszenen am Morgen, aber auch mal mitten in der Nacht, wenn Noora und Co. eine Party feiern. Die Nutzer wissen nie, wann genau der nächste Clip erscheint. Chatausschnitte und Instagram-Bilder der Serienfiguren, die zusätzlich hochgeladen werden, überbrücken die Wartezeit. Sie sind kein schmückendes Beiwerk, sondern erhellen den Handlungsverlauf. Erst freitags zeigt NRK im Fernsehen dann jeweils die ganze, zusammengeschnittene Folge.
Das Konzept dürfte Nachahmer finden. Für den amerikanischen Markt hat sich der Produzent Simon Fuller bereits die Rechte gesichert. Auch aus Deutschland gebe es „großes Interesse“, sagt Vermarkter Riesenkampff. Wie in Amerika, wo die Serie unter dem Titel „Shame“ neu abgedreht werden soll, wird „Skam“ hierzulande aber nicht im Original laufen. Den deutschen Fernsehzuschauern werden aus Skandinavien weiterhin nur düstere Thriller vorgesetzt. Schade für Fans: Aus rechtlichen Gründen sind auch die Videos auf NRK.no außerhalb Skandinaviens mittlerweile nicht mehr zugänglich. Sehen kann man die Clips aber trotzdem – als Kopie auf Youtube.