„Die Gentlemen baten zur Kasse“ bei Arte : Das ist das große Ding, das ist Eldorado
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Bruce Reynolds, der Kopf der Bande, flitzte im Alter gern mit seinem Sportwagen durch London. Bild: Lichtblick Film
Bei Arte geht es um den legendärsten Postraub der Geschichte. Was in der Nacht zum 8. August 1963 geschah, zeigt Carl-Ludwig Rettinger in seinem Dokudrama, wobei er selbst klaut: beim Klassiker „Die Gentlemen bitten zur Kasse“.
Was Arte am heutigen Abend fast drei Stunden lang zeigt, ist zum Teil faszinierend, im Ganzen aber äußerst fragwürdig. Das Faszinierende verdankt Carl-Ludwig Rettingers Film „Die Gentlemen baten zu Kasse“ seinem Thema - dem englischen Postzugraub vor fünfzig Jahren -, den Zeitzeugen, die sich dazu äußern, den lange unter Verschluss gehaltenen Akten von Scotland Yard, aus denen nun zitiert werden kann, den Bildern und Tönen aus Wochenschau- und Fernseharchiven und schließlich den privaten Super-8-Sequenzen, die Nick Reynolds, der Sohn des einstigen Bandenchefs, aus dem Fundus der Familie beisteuerte.
Dokumentarisch ist also alles in Ordnung. Das opulente Material hätte für eine spannende, erhellende, kurzum: ertragreiche Kriminal- und Kulturgeschichtsstunde allemal gereicht, womöglich gar für eine Viertel- oder halbe Stunde mehr.
Ganz offenbar nicht gereicht hat es dem Ehrgeiz des Regisseurs und Produzenten Rettinger. Anders lässt es sich nicht erklären, warum er aus einer grundsoliden Dokumentation unbedingt ein schillerndes Dokudrama machen wollte - und dies, ohne dafür selbst ein originäres Drehbuch zu schreiben oder in Auftrag zu geben und ohne einen einzigen Schauspieler, eine einzige Schauspielerin zu engagieren.
Der NDR-Dreiteiler von 1966
Stattdessen griff er für seine Spielszenen auf Vorhandenes zurück, vor allem auf das Fernseharchiv des NDR, wo man ihm in blauäugiger Ahnungslosigkeit Tür und Tor geöffnet haben muss. Zwei Senderschätze, mit denen man gerade jetzt aufs Neue hätte brillieren können, hat man auf die Weise leichtfertig aus der Hand gegeben.
Zu den berühmtesten, filmhistorisch bisher jedoch sträflich vernachlässigten Unternehmungen des deutschen Fernsehens zählt der NDR-Dreiteiler „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, der im Februar 1966 im ersten Programm lief, Abermillionen von Zuschauern in seinen Bann schlug und zum Inbegriff dessen wurde, was man damals einen „Straßenfeger“ nannte - nahezu auto- und fußgängerfreie Innenstädte während der abendlichen Sendezeit signalisierten in jenen Jahren gar nicht so selten (West-)Deutschlands Aufstieg zur Fernsehnation.
Ausgedacht hatten sich den „Gentlemen“-Coup drei Profis im Hamburger Studio: der aus Berlin stammende Brecht-Schüler Egon Monk, seit 1960 Fernsehspielchef des NDR, der in Wien geborene und mit der bereits berühmten Schauspielerin Inge Meysel verheiratete Regisseur John Olden und der Reporter Henry Kolarz, der mit seinem Kollegen Wolfgang Löhde im „Stern“ eine große, aufsehenerregende Artikelserie über die Londoner Posträuber geschrieben hatte und nun für das Drehbuch zuständig war.
Durchbruch für Tappert, Neutze und Witt
Für Olden, der während der Dreharbeiten im Alter von erst siebenundvierzig Jahren einem Herzinfarkt erlag, sprang der junge Claus Peter Witt ein - wie für Horst Tappert, der den hochintelligenten und feinsinnigen Bandenboss spielte, und für Günther Neutze, der dessen robuster Adjutant mit Lebemann-Allüren war, bedeutete der vierstündige Dreiteiler auch für Witt den eigentlichen Durchbruch.
“Die Gentlemen bitten zur Kasse“, von Monk einst „Dokumentarspiel“ genannt, war in Wahrheit Reality-TV avant la lettre. Bis heute - das Schwarzweißepos hat keinerlei Patina angesetzt - erstaunt es, mit welcher Leichtigkeit, Faktentreue und filmischer Finesse Drehbuch und Regie ein tatsächliches Gangster- und Polizeigeschehen nachzeichneten und darüber in großes Heimkino verwandelten.
Der ästhetische wie inhaltliche Mehrwert gegenüber den ebenfalls enorm erfolgreichen, aber eben auf rein fiktiven Vorlagen beruhenden Durbridge-Verfilmungen wie „Das Halstuch“ aus den frühen und den Edgar-Wallace-Adaptionen (etwa „Der Hexer“) aus den mittleren sechziger Jahren bestand gerade für die Zuschauer in der scheinbaren Authentizität, mit der sie da konfrontiert wurden.