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Arte-Reportage über Judenhass : Sie schlugen ihn und zielten auf seinen Kopf

Mahnende Erinnerung an die deutsche Verantwortung: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Bild: Kobalt/Katrin Sandmann

Bei Arte läuft eine Reportage, die man gesehen haben muss.Sie schildert die Geschichte des Vierzehnjährigen, der seine Schule in Berlin verlassen musste. Er war dort seines Lebens nicht mehr sicher – weil er Jude ist.

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          Die Journalistin Katrin Sandmann erzählt heute bei Arte „Die Geschichte von Oscar, Opfer von Antisemitismus“. Ereignet hat sich die Geschichte Anfang dieses Jahres an der Gemeinschaftsschule in Berlin-Friedenau, und sie sorgte im ganzen Land für Aufsehen. Über Wochen und Monate war der vierzehnjährige Oscar Opfer von Diskriminierung und Nachstellungen, seit er sich offen als Jude bekannt hatte. Sein bester Freund sagte ihm, dass sie nun nichts mehr miteinander zu tun haben könnten – weil Oscar Jude ist. Von zwei Mitschülern wurde Oscar besonders drangsaliert und geschlagen. Als die Mitschüler ihn mit einer täuschend echten Replika-Pistole bedrohten und eine Scheinhinrichtung mit Kopfschuss an ihm vollzogen, war für Oscars Eltern das Maß voll. Sie nahmen ihren Sohn von der Schule, die seine Sicherheit nicht garantieren konnte. Die Reportage, die Katrin Sandmann darüber gedreht hat, trägt den Titel: „Weil Du Jude bist“.

          Michael Hanfeld
          verantwortlicher Redakteur für Feuilleton Online und „Medien“.

          Der Vierzehnjährige erscheint in dieser Reportage nicht, er wird nicht einmal bei seinem richtigen Namen genannt. Es sprechen seine Eltern, Gemma und Wenzel Michalski. Für sie und ihre drei Kinder ist Berlin seit den Vorfällen eine andere Stadt geworden und Deutschland ein anderes Land. Die Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder, sagt Gemma Michalski, sei zum ständigen Begleiter geworden. Wenzel Michalski, der sich als Chef von Human Rights Watch in Deutschland von Berufs wegen mit Rassismus und Diskriminierung beschäftigt, muss gewärtigen, dass sich auch für seinen jüngsten Sohn fortsetzt, was schon er in seiner Jugend erfahren hat: Ausgrenzung und Nachstellungen, weil er Jude ist. Mit seinem Sohn trifft das die dritte Generation der Familie in Deutschland, von den Großeltern, die dem Holocaust entronnen sind, über ihn selbst, der im Nachkriegsdeutschland aufwuchs, bis zu Oscar, der nun eine jüdische Schule in Berlin besucht. Auf diese, so hören wir, kommen jedes Jahr Schüler, die an anderen Schulen verfolgt wurden – weil sie Juden sind.

          Wegschauen, Wegducken, Wegreden.

          1300 antisemitische Übergriffe wurden im vergangenen Jahr notiert. Das ist die offizielle Zahl, die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Im ersten Halbjahr hat die Zahl der Delikte noch einmal drastisch zugenommen. Sie werden begangen von Rechtsextremen, zu deren Dunstkreis auch die AfD gehört, aber auch – wie in Oscars Fall – von Muslimen. Den Judenhass der Rechten zu markieren, das fällt vielen leicht, die wahre und vollständige Dimension des Antisemitismus zu benennen, weniger. Denn es geht um ein Phänomen, das alltäglich zu werden droht, das von der extremen Rechten und von der Linken sowie von fanatisierten Muslimen ausgeht. Das aber wird nicht so gerne thematisiert, weil sogleich der Reflex einsetzt, hier würden antimuslimische Klischees bedient. Das Ergebnis ist Wegschauen, Wegducken, Wegreden.

          Davon zeugen auch die Einlassungen des Schulleiters, der in der Reportage von Katrin Sandmann zu Wort kommt. Er gibt eine jämmerliche Figur ab. Er ist der Überzeugung, man habe den Vorgang insgesamt „gut begleitet“, eine hundertprozentige Sicherheit für einen Schüler aber könne man nicht garantieren, da komme man als Schule an eine Grenze. Warum er die, wie Gemma Michalski sagt, flehentlichen Anfragen der Familie nicht beantwortete, erfahren wir nicht. Seine Einlassungen sind ein Dokument der Kapitulation. Sie werden ergänzt durch einen Elternbrief, der Anfang April dieses Jahres, als der Fall Aufsehen erregte, erschien. Indem drückten Eltern der Schule in Friedenau ihr Entsetzen aus, waren aber gleich mit Kritik an der angeblich verzerrenden Berichterstattung bei der Hand über eine Schule, die Vorreiter sei mit zahlreichen Projekten, „die für Toleranz, einen offenen Austausch und ein friedliches Miteinander vielfältiger Kulturen und Religionen steht“. Die Eltern waren also vor allem besorgt um das Ansehen der Schule, die an dem Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ teilnimmt. Die Leiterin dieses bundesweiten Projekts, Sanem Kleff, tat sich im Kleinreden des Vorfalls noch stärker hervor. Im Gespräch mit dem Online-Auftritt dieser Zeitung sagte sie: „Fälle wie diese sind nicht typisch.“ Injurien wie „Du Judenschwein“ würden häufig „völlig kontextlos“ verwendet, Jugendliche wüssten gar nicht immer so genau, was sie da sagten.

          Die Familie Michalski.
          Die Familie Michalski. : Bild: Kobalt

          Einzelfälle ohne Kontext? Dagegen spricht die Häufigkeit solcher Vorfälle, die immer wieder schlaglichtartig aufscheinen, wie vor drei Jahren, als der Stadtschülersprecher von Offenbach, ein deutscher Schüler jüdischen Glaubens, von seinem Amt zurücktrat, weil er von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund massiv bedroht worden war – weil er Jude ist. Und den „Kontext“ findet man nicht nur beim völkischen Judenhass der Rechtsextremen, sondern auch bei den „Israel-Kritikern“, bei denen die Aversion gegen die israelische Regierung mit Antisemitismus Hand in Hand geht. Wer leugnet, dass diese Bewegung mit dem Zuzug von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum Zuwachs bekommt und eine religiöse Grundierung hat, verschließt vor einer Realität die Augen, die unsere freiheitlich-pluralistische Gesellschaft auf die Existenzprobe stellt.

          Die Schule ist der Ort, an dem die Herausbildung von Toleranz und Akzeptanz beginnt. An ihr zeichnet sich das gesellschaftliche Klima vor. Sie steht vor einer gewaltigen Aufgabe, die man nicht nur Lehrerinnen und Lehrern aufbürden darf. Sie muss höchste Priorität für die Schulverwaltung und für die Politik besitzen, soll das Gemeinwesen nicht auseinanderbrechen. Da vom rot-rot-grünen Senat in Berlin in dieser Hinsicht nichts zu erwarten ist, sollte die Bundesregierung den auch in dieser Reportage formulierten Appell beherzigen: Es braucht eine/n Antisemitismus-Beauftragte/n, soll es in der Bundesrepublik nicht so weit kommen wie im Nachbarland Frankreich, in dem Juden seit Jahren immer wieder angegriffen und Opfer von Verbrechen werden, die zumeist von islamistischen Tätern begangen werden, was inzwischen zu einer deutlichen Auswanderungswelle geführt hat.

          Die Ehrenrettung für den deutsch-französischen Sender

          Dass die Reportage von Katrin Sandmann und der Firma Kobalt Productions, beauftragt vom ZDF, heute bei Arte läuft, ist auch so etwas wie eine kleine Ehrenrettung für den deutsch-französischen Sender. Er hat bekanntlich bei der Aussendung der Dokumentation „Auserwählt und ausgrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ ebenso wie der für diesen Film zuständige Westdeutsche Rundfunk in krasser Weise versagt. Gezeigt wurde der Film erst nach massiver Kritik (auch von dieser Zeitung) und dann in absurd kommentierter Form, die allein auf die Selbstrechtfertigung abzielte, warum man den Film nicht hatte zeigen wollen. Dieser hatte zwar seine Fehler und war „einseitig“, machte aber mit insbesondere in Frankreich bis dato im Fernsehen nicht gezeigten Aufnahmen klar, um was es geht: um grassierenden Judenhass und dessen extreme Auswüchse. Wenn öffentlich-rechtliches Fernsehen davor die Augen verschließt, bezeugt es eine Feigheit, wie sie Michel Houellebecq in seinem Roman „Unterwerfung“ beschreibt.

          Oscar, der vierzehnjährige Junge aus Berlin, den Katrin Sandmann in ihrer Reportage klugerweise nicht zeigt, aber dessen Geschichte sie umso eindrücklicher erzählt, lernt inzwischen Karate. Er will sich für das Leben in Deutschland wappnen – als Jude, der seinen Glauben nicht verbergen muss. Seine Geschichte steht für viele, für viel zu viele. Heute gibt es einen Grund, Arte einzuschalten oder die Reportage aufzuzeichnen. Sie beginnt um 19.40 Uhr.

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