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ARD-Doku über Mauer-Opfer : Kinder als Staatsfeinde

  • -Aktualisiert am

Der ehemalige Grenzsoldat Eberhard Otto an Resten des Grenzzauns. Bild: rbb/Rainer M. Schulz

Eine Dokumentation im Ersten zeigt, wie Kinder und Jugendliche an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen. Die Verbitterung der Hinterbliebenen über das Grenzregime der DDR vergeht nicht.

          3 Min.

          Dort, wo am vergangenen Wochenende sonnige Bilder der Deutschen Kanu-Meisterschaft zu sehen waren – an der Spree nahe der Oberbaumbrücke in Berlin, spielten sich nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 tragische Szenen ab. Am Ufer unterhalb der Brücke an der Berliner Sektorengrenze starben mehrere Kinder. Die Brücke verbindet den damals im amerikanischen Sektor liegenden Stadtteil Kreuzberg mit dem damals sowjetisch besetzten Friedrichshain. Mit dem Bau der Berliner Mauer gehörte das Gewässer der Spree an dieser Stelle bereits zur DDR.

          Das Erste zeigt nun einen Dokumentarfilm von Sylvia Nagel und Carsten Opitz, der sich mit den Todesfällen von Jugendlichen und Kindern an der Berliner Sektorengrenze und an der innerdeutschen Grenze befasst. Obwohl die DDR-Grenzsoldaten zunächst angehalten waren, bei Kindern und Frauen, die in den Todesstreifen gerieten, nicht so hart durchzugreifen – das heißt, nicht zu schießen –, kam es immer wieder zu Erschießungen oder Tod durch Ertrinken wegen unterlassener Hilfe. Später habe die Staatssicherheit die Regeln verschärft, weil die „Verräter“ sich dies zunutze machen würden.

          Für ihren bewegenden Film haben die Dokumentarfilmer mit Überlebenden und Familienmitgliedern der ums Leben gekommenen Kinder und Jugendlichen sowie mit ehemaligen Grenzsoldaten gesprochen. Anhand von Stasi-Archivmaterial wurden die Todesfälle wieder aufgerollt, die viele Jahre später und nach dem Mauerfall zum Teil vor Gericht landeten. Eine Rückkehr der Hinterbliebenen an die Unglücksorte zeigt: Das Leid der Familien und Freunde, die Verbitterung über die Todesfälle an der Grenze und die Vertuschung der Fälle durch die Stasi sitzt immer noch tief. Giuseppe Savoca, Kind einer italienisch-griechischen Gastarbeiterfamilie, die in Kreuzberg lebte, war gerade einmal sechs Jahre alt, als er dem DDR-Grenzregime zum Opfer fiel. Am 15. Juni 1974 stürzte er beim Spielen am Spreeufer ins Wasser. Der sich versammelnden Menschenmenge am Unglücksort sowie der Polizei und Feuerwehr West-Berlins blieb nichts anderes übrig, als dem Jungen beim Ertrinken zuzusehen. Mit einem Sprung ins Wasser, um den Sterbenden zu retten, hätten sie ihr eigenes Leben riskiert. Denn bei Grenzübertritt durfte das Grenzregiment schießen. Nur von Seiten Ost-Berlins durften Rettungsmaßnahmen durchgeführt werden. Doch dort weigerte man sich, Erste Hilfe zu leisten, und erklärte den Vorfall zur Provokation durch die Westseite. Giuseppes Leiche wurde Stunden später von den Grenzsoldaten geborgen. Die Staatssicherheit erstellte einen verharmlosenden Bericht über den Vorfall. Vier weitere Kinder zwischen vier und acht Jahren starben auf ähnliche Weise.

          Die im Film geschilderte Tatenlosigkeit der Grenzsoldaten macht vor allem deshalb fassungslos, weil es sich bei den Kindern ja nicht um Fliehende handelte, sondern um Kinder, die beim Spielen in Lebensgefahr gerieten. Erst mit der Unterzeichnung eines „Abkommens über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen in den Berliner Grenzgewässern“ am 29. Oktober 1975 wurde das Sterben am Spreeufer beendet.

          Die beiden fünfzehnjährigen Schulfreunde Heiko Runge und Uwe Fleischauer aus Halle-Neustadt hingegen wollten wirklich in den Westen fliehen. Beide schafften es nicht, dem Leben in der DDR und den Schwierigkeiten zu Hause zu entkommen. Heiko wurde bei der Flucht durch Dauerbeschuss getötet – Uwe wurde festgenommen, die Stasi unterzog ihn tagelang mit quälenden Verhören, danach musste er ins Gefängnis.

          Filmausschnitte aus dem Archiv zeigen einen der verantwortlichen Grenzsoldaten, der Jahre später mit dem Fall konfrontiert wird. Er habe keine Wahl gehabt: „Wenn ich nicht geschossen hätte, hätte jemand anders auf mich geschossen“, sagt der ehemalige Grenzer und meint seinen Vorgesetzten. Seine Reaktion zeigt die grausame Perfektion des durch die Stasi errichteten Systems, das auf Angst basierte. Die „Erfüllung des Klassenauftrags“, sagt zwanzig Jahre nach dem Tod Heiko Runges ein ehemaliger Major aus derselben Einheit, habe Vorrang gehabt. Auch der angebliche „besondere Schutz“, der Kindern und Jugendlichen gelten sollte, konnte den Tod von vielen Minderjährigen nicht verhindern. Auch sie galten gleichermaßen als Republikflüchtige und somit als „Staatsfeinde“. Heiko Runges Familie und auch sein Freund Uwe blieben lange im Ungewissen über die Umstände des Todes. Als seine Mutter bei der Staatsanwältin nachhakte, entgegnete diese ihr: „Hören Sie auf zu heulen, Sie haben einen Vaterlandsverräter geboren.“

          Geschichte im Ersten: Die jüngsten Opfer der Mauer läuft heute um 23.20 Uhr im Ersten.

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