„Midnight Gospel“ bei Netflix : In der chromatischen Schleife
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Die wilde Fahrt beginnt, diverse Galaxien stehen auf dem Besuchsprogramm.
Die Animationsserie „Enthüllungen zu Mitternacht“ hat galaktischen Tiefgang. Sie ist so abgedreht und philosophisch verwegen, dass man Augen und Ohren offenhalten muss, um mitzukommen. Und sie geht direkt ans Herz.
Wenn man etwas, von dem die Welt aktuell nicht noch mehr braucht (Podcasts), mit etwas zusammenwürfelt, das die Welt stets braucht (kluge Trickfilmserien), dann kommt manchmal Gutes dabei heraus. Oder, im Fall von „The Midnight Gospel“ (deutscher Titel: „Enthüllungen zu Mitternacht“), etwas, das von phänomenaler, fast kosmischer Substanz ist. Etwas, das all unsere Hirnareale anspricht und die Synapsen zum Glühen bringt, als hätte jemand von außen den tausendblättrigen Lotus, unser Sahasrara-Chakra, angeknipst wie einen Nebelscheinwerfer.
Wer zufällig auf diese nächtlichen Enthüllungen stößt und nichts vom Konzept des Formats weiß, dem werden die Sehgewohnheiten durcheinandergerührt. Der Ausnahme-Animator Pendleton Ward, Schöpfer der großartigen Serie „Adventure Time“, hat sich die Interviews der „The Duncan Trussell Family Hour“, des Podcasts des amerikanischen Comedians Duncan Trussell, vorgenommen. Auf ihrer Grundlage hat er halbstündige Trickfilmabenteuer geschaffen, die trotz ihres einfachen Stils die Art und Weise, wie in Trickfilmen und über sie nachgedacht wird, auf ein neues Niveau hebt. Es geht um Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, alles dazwischen und darüber hinaus.
Diese Serie schafft etwas, das kaum je eine Serie je schafft: eine Ahnung von existentieller Hoffnung und Zuversicht; den ersten Ton eines brummenden Vertrauens, dass irgendwo in diesem Chaos (und in dem anderer Menschen) eine Ordnung ist, die zu einem selbst gehört – auf dass sie einen findet, damit man sich von ihr befreien kann. So ungefähr.
Wir folgen – und müssen uns höllisch anstrengen, das zu tun; „The Midnight Gospel“ verlangt aktive Rezeption – dem Spacecaster (einer Art galaktischem Youtuber) Clancy Gilroy. Er lebt in einer Welt, die „Chromatische Schleife“ heißt. In ihr nutzen sogenannte Simulationsfarmer illegale Computer, um Technologie aus den damit simulierten Multiversen zu ernten. Der Simulationscomputer sieht aus wie ein überdimensionierter, abstrakter weiblicher Schoß. Trotzdem wirkt nichts, was mit ihm geschieht, je wirklich anzüglich. Der Computer-Schoß generiert nun Welten, in die Clancy mit seinen Kameradrohnen reist, um Interviewpartner zu finden. Sie sagen Dinge wie: „Wenn das Universum ein Delphin wäre, wären unsere Körper Fischernetze.“ Am Ende kommt es eigentlich immer zum Zusammenbruch der bereisten Welt, aus der sich Clancy jedes Mal ein paar Schuhe als Andenken mitnimmt.
In „The Midnight Gospel“ ist das, was wir sehen – Disco-Zombie-Apokalypse, ein kabbalistischer Lebensbaum (Sephiroth) auf einer Wasserrutsche, die Planetenwerdung einer Seele –, nur der Hintergrund für das, was wir hören. Mal korrespondiert beides auf unnachahmliche Weise, so dass man sich fragt, wie sich solche Gleichzeitigkeit erzeugen lässt. Mal lösen sich Dialog und Gezeigtes scheinbar weit voneinander. Es sind im besten Sinne philosophische Gespräche, die Animation bildet das Eingangstor. Sie lädt ein, sie hilft verstehen. Wie, das ist schwer zu greifen: Es ist, als schärfe die Beschäftigung des einen Sinnes (Sehen) den anderen (Hören), damit der erste den anderen nicht ablenkt, weil ihm langweilig ist. So wird der unbeteiligte Zuschauer zu einem beteiligten Zuhörer.