„T.C. Boyle“ auf Arte : Der Rattenfänger aus der Sierra Nevada
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Für T.C. Boyle dreht sich alles um das Schreiben und das Alleinsein in der Natur. Bild: Nordend Film
T.C. Boyle ist Amerikas Schriftsteller der Stunde, seine Romane handeln von Sex, Drogen und Gewalt und spiegeln die Gegenwart, das arbeitet ein Porträt bei Arte fein heraus.
T.C. Boyle hat schon viele Ratten gefangen. Mehr als zweihundert, um genau zu sein. Besonders kommod finden sie den Schuppen seines Gästehauses. Es gehört zur täglichen Routine des Schriftstellers, die dort aufgestellte Lebendfalle zu überprüfen. Er schiebt seinen schlaksigen Körper an allerlei Gerümpel vorbei und wirft einen Blick in die Ecke des Raums. Bingo, ein Prachtexemplar. Vor der Tür hält er den Käfig hoch und staunt: „Sehen Sie sich dieses wunderschöne Tier an.“ Die Ratte guckt bedröppelt in die Kamera, als würde sie das Theater absurd finden, sich dazu aber nicht äußern wollen. „Ihr Verhängnis“, sagt Boyle, „ist ihre Liebe für Erdnussbutter.“ Er wird sie fotografieren und einige Kilometer entfernt in den Bergen aussetzen.
Die Aufnahme landet auf Boyles Twitter-Account, denn seine Leser nehmen gerne Anteil an den Rattenumzügen. Und am Leben des Amerikaners. In der vergangenen Woche twitterte Cyprus, einer von vielen Anhängern aus Deutschland, er freue sich auf die Lesung an seinem Geburtstag in Koblenz. Die Antwort folgte prompt: „See you there, Cyprus! Herzlich Geburtstag.“ Das ist keine Ausnahme, Boyle zelebriert online einen bemerkenswerten Fan-Service. Wer ihm schreibt, darf mit einer Reaktion rechnen. So entsteht das Bild des nahbaren, auf Ansprache wartenden, sich sorgenden Vorzeigekünstlers, der andererseits – gut für die Glaubwürdigkeit – in Interviews mit Gusto von seinen Breitbanddrogentrips berichtet.
Oft beschreibt er Schwellenerfahrungen und Kippmomente
Diese Rolle hat er über die Jahre feingeschliffen. Er spielt sie gerne, vor allem wenn Kameras auf ihn gerichtet sind. Daher trägt die von Adrian Stangell und Isabelle Hinteregger produzierte Dokumentation über Boyle den Untertitel „Rockstar der amerikanischen Literatur“. Die Themen seiner Romane kommen dem Label entgegen: Sex, Drogen, Gewalt. Oft beschreibt er Schwellenerfahrungen und Kippmomente, in denen das Leben einer Figur eine andere Richtung nimmt. „Er blutete aus beiden Nasenlöchern“, heißt es in „Hart auf hart“ (2015), „seine Brust und sogar seine Oberschenkel waren blutverschmiert, als hätte man ihn in einen Trog in einem der Schlachthäuser von St. Louis geworfen, und da wusste er, dass der Augenblick der Entscheidung gekommen war, der Wendepunkt, in dem die Münze geworfen wurde: Leben oder Tod.“
Manchmal braucht es mehr als zwanzig Jahre, bis ein Buch den Höhepunkt seiner Aktualität erreicht. „América“ (1995) handelt von gutsituierten Angehörigen der kalifornischen Mittelschicht, denen sich bei jedem gesichteten Mexikaner so brutal die Kehle zuschnürt, dass sie eine Mauer um ihre Siedlung bauen. „Bevor Trump Präsident wurde, waren die Menschen toleranter“, sagt Boyle mit finsterer Miene, „jetzt hat er allem und allen den Krieg erklärt.“ Wer seinen Job an eine Maschine verliere, lasse sich leicht manipulieren und benötige einen Sündenbock. Am einfachsten sei es, andere ethnische Gruppen zu verteufeln.
„Ich fühle den Puls der Erde“
Die größte Gelassenheit strahlt Boyle aus, sobald er über die Natur spricht und mit seiner Hündin in den Wäldern der Sierra Nevada spazieren geht: „Ich bin jeden Tag stundenlang draußen, höre und sehe keine Menschen – und fühle den Puls der Erde. Das ist wundervoll.“ Einmal steht er im Sequoia-Nationalpark zwischen lauter toten Bäumen und erklärt im Stil des Diagnostikers, nicht des Weltverbesserers, was ihnen den Garaus gemacht hat: globale Erwärmung, zu wenig Regen, Borkenkäfer. Von der Zerstörung der Natur handelt auch sein 2011 erschienener Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“. Essayistisch hingegen hat er sich im „New Yorker“ mit dem sogenannten Thomas Fire beschäftigt, das 2017 in Südkalifornien wütete. Schuld an der Umweltmisere sei der Konsumwahn: „Wir wollen immer mehr, doch unsere Ressourcen sind begrenzt“, sagt Boyle, „unsere Spezies ist am Limit, und die kapitalistische Welt schert sich nur darum, noch mehr Profit zu machen.“
Es gebe nicht den geringsten Grund zur Hoffnung, aber die Laune lässt sich Boyle, der jeder Tiefstapelei abgeschworen hat, nicht vermiesen: „Eines habe ich gelernt – alles wird immer schlimmer. Alles, was wir tun, ist komplett sinnlos, da wir eh bald sterben. Und trotzdem bin ich der glücklichste Mensch, der je gelebt hat.“ Daraus spricht keine Reflexionsverweigerung, sondern die Lust an Provokation. Das setzt sich phänotypisch fort. Sonnenbrille, Kappe der Los Angeles Dodgers oder Wollmütze, Jeansjacke, Ethnokette, Totenkopfring, pinkfarbene Chucks. Die Haltung leicht vornübergebeugt, das Haar wie ein aus drahtigem Gestrüpp gefertigtes Vogelnest. So laufen Zwanzigjährige herum. Als Boyle zwanzig war, hat er das Woodstock-Festival besucht. Heute ist er siebzig.
Die Dokumentation stellt wichtige Themen aus seinem mittlerweile mehr als hundert Erzählungen und sechzehn Romane umfassenden Œuvre in Zitaten vor. Dazu sehen wir animierte Bilder – eine entbehrliche Spielerei. Wenig aufschlussreich, weil unterkomplex ist es auch, wenn Boyles Werk allzu eilig mit seinem Leben und der gesellschaftlichen Lage in den Vereinigten Staaten abgeglichen wird. Am besten sind jene Momente, in denen er erzählt: „Die Literatur hat mich gerettet. Schluss mit den Drogen und dem Feiern“, „für mich dreht sich alles ums Schreiben und das Alleinsein in der Natur“, „Waffen haben genau einen Zweck. Menschen umzubringen. Ich will niemanden töten. Außer mich selbst.“ Bis es so weit ist, wird Thomas Coraghessan Boyle hoffentlich noch viele Ratten fangen, fotografieren und in den Bergen freilassen.
T.C. Boyle, Rockstar der amerikanischen Literatur, heute um 21.50 Uhr bei Arte.