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Kontrolle für Netzkonzerne : Die Medienpolitik betritt Neuland

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Peter Tschentscher, (SPD, links), Erster Bürgermeister Hamburgs, Markus Söder (CSU) Ministerpräsident in Bayern, und Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz, im vergangenen Dezember in Berlin, als der Medienstaatsvertrag vorgestellt wurde. Bild: dpa

Der neue Medienstaatsvertrag ist in Kraft getreten. Er nimmt endlich digitale Plattformen in die Pflicht. Doch geschieht das in der Praxis auch? Und wenn ja, wie?

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          Über kein anderes gesetzliches Vorhaben hat die deutsche Medienwirtschaft in den vergangenen Jahren so intensiv und kontrovers debattiert wie über den Medienstaatsvertrag. Nun ist er wirksam. Der bisherige Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (RStV) konnte den mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden. Deshalb konstituierte sich auf Initiative der Länder 2014 eine Bund-Länder-Kommission, die über Konsequenzen aus der Medienkonvergenz entscheiden sollte. Deren Überlegungen waren die Basis für die vorliegende Übereinkunft, die am 30. April dieses Jahres von den Regierungschefs aller Länder unterzeichnet wurde. Am 28. Oktober hat der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern als letztes Parlament der Vereinbarung zugestimmt. Am vergangenen Samstag ist der Medienstaatsvertrag in Kraft getreten.

          Damit endet die mehr als dreißigjährige Ära der Rundfunkstaatsverträge, von denen es seit 1987 insgesamt 23 aktualisierte Varianten gab. Zugleich manifestiert der Medienstaatsvertrag den politischen Paradigmenwechsel: An die Stelle einer rundfunkbezogenen Perspektive tritt die Betrachtung und Regulierung von Medien, unabhängig ihrer Distributionsart. Die Satzungen für die Umsetzungen der Regelungen für Plattformen und Medienintermediäre erlassen die Landesmedienanstalten.

          Der Medienstaatsvertrag erfasst drei Bereiche: den klassischen Rundfunk, Medienplattformen und Medienintermediäre. Dazu kommen Regelungen für Video-Sharing-Dienste und Werbung. Auch in einer von Algorithmen gesteuerten Kommunikationswelt soll die Zugänglichkeit zu vielfältigen Informationen und Ansichten gewährleistet sein. Nur so ist eine freie Meinungsbildung gewährleistet. Suchmaschinen und soziale Netzwerke sind zu Gatekeepern geworden und haben verstärkt Kontrolle über Medieninhalte. Dienste wie Facebook und Google werden als primäre und teilweise einzige Informationsquelle genutzt. Damit kommt ihnen für die Meinungsbildung hohe Bedeutung zu. Deshalb berücksichtigt der Staatsvertrag Medienintermediäre erstmals in einem Rechtsrahmen zur Vielfaltssicherung und legt ihnen Pflichten auf.

          Die Definition des Rundfunkbegriffs baut auf die Neufassung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD) auf, die 2018 von der EU beschlossen worden ist. In diesem Sinne ist Rundfunk ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst. Er ist die für die Allgemeinheit und zum gleichzeitigen Empfang bestimmte Veranstaltung von journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten in Bewegtbild oder Ton, entlang eines Sendeplans mittels Telekommunikation. Es wird auch weiterhin eine Zulassung geben, die allerdings durch eine Bagatellregelung für bundesweite Angebote ergänzt worden ist. Keiner Zulassung bedürfen künftig Rundfunkprogramme, die nur geringe Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung aufweisen.

          Bei Medienplattformen bleibt das Verbot der technischen oder inhaltlichen Veränderung ohne Zustimmung des inhaltlich Verantwortlichen erhalten. Zusätzlich wird die Überblendung oder Skalierung mit anderen Inhalten verboten. Auch für Medienplattformen gilt die Diskriminierungsfreiheit und Chancengleichheit. Rundfunk, rundfunkähnliche Telemedien und Telemedien dürfen beim Zugang zu Medienplattformen nicht behindert und nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich behandelt werden.

          Konzerne müssen Kriterien der Informationsauswahl offenlegen

          Medienintermediäre müssen auch künftig keine Geschäftsgeheimnisse offenlegen, aber sie sind verpflichtet, Kriterien zu benennen, die über den Zugang eines Inhalts zu einem Medienintermediär und über den Verbleib entscheiden. Zudem müssen sie die zentralen Kriterien einer Aggregation, Selektion und Präsentation von Inhalten und ihre Gewichtung, einschließlich Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar halten. Darüber hinaus enthält der Vertrag Maßgaben, um zu verhindern, dass Angebote gezielt besser oder schlechter behandelt werden.

          In einem Gespräch mit dieser Zeitung hat Heike Raab (SPD), Medienstaatssekretärin in Rheinland-Pfalz, darauf verwiesen, dass die Bedeutung des Internets, vor allem der globalen Plattformen, für die Verbreitung medialer Informationen während der Corona-Pandemie massiv zugenommen habe. Zugleich suchten die Menschen verlässliche und seriöse Informationen. Durch Transparenzgebote und Diskriminierungsverbote für Online-Dienste wie Google, Facebook, Twitter, Youtube oder Amazon im Medienstaatsvertrag würden Meinungsvielfalt und kommunikative Chancengleichheit im Netz gefördert. Regeln für eine leichte Auffindbarkeit für Qualitätsjournalismus und regionale oder lokale Inhalte erhöhten die Sichtbarkeit seriöser Informationen. Mit dem Medienstaatsvertrag beträten die Länder teilweise regulatorisches Neuland, sie beobachteten genau, wie die neuen Regeln greifen.

          Aus der Kreativwirtschaft, von Medienrechtlern und Medienverbänden gibt es aber auch Kritik. So sieht Bernd Holznagel von der Universität Münster Defizite beim Medienwahlkampfrecht, dem Verlautbarungsrecht im Telemedienbereich und bei (journalistischen) Auskunftsrechten für Informationsdienste. Die Verwertungsgesellschaft VG Media moniert, dass eine Ausnahmeregelung des Paragraphen 94 ein Schlupfloch, beispielsweise für Google, sein könnte, das Diskriminierungsverbot zu unterlaufen. Dieter Dörr, der an Johannes Gutenberg-Universität Mainz Öffentliches, Europa- und Medienrecht lehrt, fordert ein medienübergreifendes Vielfaltssicherungsrecht zu schaffen, das die Intermediäre einbeziehe.

          Google will EU-Kommissare gegeneinander ausspielen

          Grundsätzliche Vorbehalte kamen von der EU-Kommission. Unter Verweis auf den von ihr geplanten Digital Services Act wurde der Medienstaatsvertrag als nationaler Alleingang gerügt. Doch der Digital Services Act (Digitale-Dienste-Gesetz) wird keine spezielle Verordnung für Online-Anbieter von Medieninhalten und für Social-Media-Plattformen, sondern für alle Dienste der Informationsgesellschaft.

          Die neue Verordnung, die in der Verantwortung der Kommissare Margrethe Vestager und Thierry Breton liegt, soll europaweit klarere Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für Online-Plattformen und Marktplätze festlegen. Sie sollen so die Marktmacht von Plattformkonzernen wie Google und Amazon beschränken. Zugleich will die EU-Kommission europäischen Start-ups durch einheitliche Spielregeln helfen. Es ist geplant, dass das Digital-Services-Act-Paket zudem Ex-ante-Regeln für große Online-Plattformen vorschlägt, die als Gatekeeper fungieren und die Spielregeln für ihre Benutzer und ihre Konkurrenten festlegen. Die Initiative soll sicherstellen, dass sich diese Plattformen fair verhalten und von neuen Marktteilnehmern und bestehenden Wettbewerbern herausgefordert werden können. Für die Durchsetzung ist eine europäische Aufsichtsbehörde für digitale Dienste, eine Art Digitalagentur, geplant.

          Eine solche neue Behörde hält Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW und Europabeauftragter der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM), für überflüssig: „Keines der aktuellen Probleme ist durch Diskussionen über die Anzahl der Behörden lösbar. Wir brauchen klare Regelungen für die Verantwortung im Netz, für den Schutz des Einzelnen und für den Schutz der Meinungsfreiheit und vor allem brauchen wir die Mittel, diese Regeln durchzusetzen.“ Inwieweit die Europäische Kommission dabei zwischen einer Medienplattform und einer Tauschplattform für gebrauchte Gartenmöbel unterscheiden werde, sei abzuwarten. Er hoffe jedoch, dass die Sicherung der Medienvielfalt für den Digital Services Act von Relevanz sei, denn eine vielfältige Medienlandschaft sei der demokratische Sauerstoff der EU.

          Auch Alexandra Geese, Europaabgeordnete und Berichterstatterin der Grünen für den Digital Services Act, erwartet, dass die EU-Initiative weitreichende Auswirkungen auf soziale Medien haben werde. Der Medienstaatsvertrag gebe hierfür einen wichtigen Impuls: „Wir brauchen mehr Transparenz über Empfehlungsalgorithmen, also etwa darüber, warum wir welche Nachrichten in unserem Facebook-Newsfeed angezeigt bekommen.“

          Eher skeptisch sieht Wolfgang Schulz, Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung, Hans-Bredow-Institut (HBI), die Aktivitäten der EU-Kommission, da die EU keine Kompetenz für die Vielfaltssicherung besitze. Das sei Aufgabe der Mitgliedstaaten. Auf europäischer Ebene müsse die Frage gelöst werden, wie es um die Haftung von Plattformen für Inhalte Dritter steht. Wegen des Lobby-Kampfs um diese Fragen sei er „nicht sehr hoffnungsfroh“, dass sachgerechte Lösungen möglich seien. Ende des Jahres wird die Kommission den ersten Entwurf vorlegen. Schon jetzt ist absehbar, vergleichbar den Aktivitäten gegen die EU-Urheberrechtsnovelle, dass die globalen Konzerne mit allen Mitteln versuchen werden, eine Beschränkung ihrer Macht zu verhindern. Wie die „Welt am Sonntag“ gerade berichtete, hat sich Google eigens eine Strategie zurecht gelebt, um die Kommissare Breton und Vestager gegeneinander auszuspielen. Ob es gelingt, die Macht der globalen Digitalkonzerne einzuhegen, wird wesentlich vom Europäischen Parlament abhängen.

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