Audible Turn : Wer nicht hören will, muss weitersehen
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„Hast du das gehört, wie ich jetzt nix geredet habe? - Zugehört hab ich schon, aber gehört hab ich nix“: Karl Valentin und Liesl Karlstadt wussten, wozu Stille da ist. Bild: Odilon Dimier/PhotoAlto/laif
Das Ohr durchschaut, was das Auge übersieht: Nach einer Ära der visuellen Dominanz in den Medien meldet sich kraftvoll die Dimension des Hörens zurück. Ein Gastbeitrag.
„Im Heuboden“ heißt ein Hörstück von Karl Valentin und Liesl Karlstadt, in der sie im Dunkeln, auf einem Heuboden sitzend, der Frage nachgehen, warum man im Finstern was hört, aber nichts sieht. In dem unsinnig-beredten Dialog wird über die Unterschiede der Sinneswahrnehmungen herumgealbert und über die Eigenartigkeit des Hörsinns philosophiert: „Rede mal nix, ob ich nachher was höre. – Jetzt pass auf, jetzt rede ich nix. – Hast du das gehört, wie ich jetzt nix geredet habe? – Zugehört hab ich schon, aber gehört hab ich nix.“
Die Merkwürdigkeit des Hörens, wie die beiden lakonisch feststellen, besteht in seiner Augenblicklichkeit, weshalb es auch als die spirituellste aller Sinneswahrnehmungen gedeutet wird. Augenblicke gerinnen zur Vergangenheit und künden zugleich von der angebrochenen Zukunft. Die Kunstform Musik vermittelt davon einen sinnlich erfahrbaren Begriff. Musik spielt mit den Erwartungen der nächsten Zukunft. Unser Gehirn „komponiert“ beim Hören mit, spinnt eine Melodie für Sekundenbruchteile weiter. Weicht die Melodie geringfügig vom „erwarteten“ Kompositionsmuster ab, entsteht eine erhöhte Aufmerksamkeit. Aus diesem Spannungsverhältnis von Erwartung und Erstaunen generiert sich ein Begriff von Zeit.
Gemeinschaftssinn durch Hören
Die Einsicht, dass es Stille braucht, um etwas zu hören, war schon vor den Einlassungen der bayerischen Dadaisten fester Bestandteil fernöstlicher Spiritualität. Für Miles Davis waren die Noten, die er nicht spielte, wichtiger als die, die er spielte. Sergiu Celibidache verlängerte Bruckner in die Ewigkeit. Diese Dichotomie von Stille und Nichtstille ist Ursache dafür, dass das Ohr immer wach ist. Während das Auge sich zum Träumen verschließt und seinen Blick nach innen richtet, „überwacht“ der Hörsinn auch im Schlaf, was im Außen passiert. Achtsamkeit, Genauigkeit und intuitives Misstrauen sind im Hören verankert.
Neben der Dichotomie von Stille/Nichtstille drängt sich nun eine weitere auf: Autonomie und Gemeinschaftssinn. So wie der Hörsinn uns half, uns rechtzeitig vor dem Säbelzahntiger in Sicherheit zu bringen – modern gewendet die Feuerwehrsirene uns vor Gefahr warnt –, uns also hilft, unsere Autonomie zu wahren, so ist das Hören auch Voraussetzung für die soziale und kommunikative Natur des Menschen, die ohne Hörsinn nicht erfahrbar wäre.
Kraft der Intuition
Gefühle über unsere Stimme auszudrücken und durch Hören zu dekodieren, bekommen wir in die Wiege gelegt. Ja, mehr noch, der Hörsinn ist bereits aktiv, bevor wir auf der Welt sind. Die ersten „medialen“ Erfahrungen sind die Herztöne der Mutter. Die Ohren-Biographie ist älter als die Augen-Biographie, merkt Peter Sloterdijk an. Das Auge nimmt erst ex-utero seinen Betrieb auf.
Während für das Verständnis für das Sehen viel „Hirnschmalz“, wie Valentin sagen würde, investiert werden muss – Zeugnis darüber legten von John Berger über Susan Sontag bis hin zu Siri Hustvedt zahlreiche Intellektuelle ab –, kann sich das Hören auf die Kraft der Intuition verlassen. Hätte Wolfgang Beltracchi Hörbilder statt alter Meister gefälscht, wäre er sofort aufgeflogen. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Daniel Levitin spricht vom Musik-Instinkt. Sein berühmter Kollege Jacques Lacan sagt, der Patient ist wie ein Musiker, der sein Stück falsch spielt. Auf das Urteil des Ohres ist Verlass. Klang und Stimmen lügen nicht.