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„Faktenfinder“ zu Prien : Die ARD verrechnet sich

In falschem Ton antwortete Karin Prien auf eine Kritikerin bei Twitter. Der „Faktenfinder“ der ARD gibt ihr recht und greift ebenfalls daneben. Bild: dpa

Der „Faktenfinder“ stellt eine Twitter-Nutzerin als unseriös hin, die der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin widersprochen hatte. Die eigenen Recherchefehler legt die NDR-Redaktion nicht offen.

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          Karin Prien, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hat ihren Twitter­kanal stillgelegt, nachdem sie mit einem Tweet zum Thema der Sterblichkeit von Kindern in der Pandemie heftigste Em­pörung ausgelöst hatte. „Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit Covid-19 und nur extrem selten wegen Covid-19.“ Das war die Antwort der Ministerin auf eine Frau, die sich in ihren persönlichen Angaben als Pädagogin und Leseratte vorstellt und am 11. Februar mit Bezug auf Priens Äußerungen in der Talkshow von Markus Lanz geschrieben hatte: „Wir haben in den letzten 4 Wochen 17 tote Kinder gehabt. 17 – in vier Wo­chen. Und es geht immer schneller. Bis Oktober 21 hatten wir 27 tote Kinder, seit Oktober 38. Also in 4,5 Monaten mehr als in 18 Monaten. Insgesamt sind 65 Kinder verstorben. Fünfundsechzig.“

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          Am 14. Februar wurde auf der Internetseite der „Tagesschau“ in der Rubrik „Faktenfinder“ ein Text mit der Überschrift „Kinder deutlich weniger gefährdet“ veröffentlicht. Den „Faktenfinder“ betreut eine eigene NDR-Redaktion, die den Anspruch erhebt, in öffentlichen Streitsachen aufgestellte Behauptungen auf ihre tatsächliche Richtigkeit zu überprüfen und dadurch die Aufklärung zu be­fördern. In diesem Fall lautet das Er­gebnis: „Die CDU-Politikerin Prien wurde hart kritisiert, da sie darauf hinwies, dass nur wenige Kinder an Covid-19 sterben. Vorliegende Daten geben ihr recht.“ Der Verfasser ist Patrick Gensing.

          Woher stammen wohl die Zahlen?

          In der ursprünglichen Version des Tex­tes schrieb Gensing über den Tweet, an dessen Autorin Prien ihre Aufforderung zur Differenzierung adressiert hatte: „Woher die Angaben stammen, es habe zuletzt ‚17 tote Kinder‘ gegeben, bleibt unklar.“ Es wäre für Gensing ein Leichtes gewesen, die tatsächliche Grundlage der Zahlenangabe zu finden. Deren Präzision legte von vornherein nahe, dass Priens Kritikerin sich auf das Robert-Koch-Institut (RKI) bezog, zu dessen Pflichten das Sammeln und Publizieren der Fallzahlen gehört. Und hätte sie ihre Zahl nicht aus dieser Quelle gehabt, hätte man sie mutmaßlich mit RKI-Zahlen korrigieren können.

          Das RKI publiziert eine wöchentlich ak­tualisierte Tabelle auf der Grundlage der von den Gesundheitsämtern gemeldeten Fälle. Dort werden die Todesfälle nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt. In der jüngsten Tabelle mit dem Stand vom 9. Februar stehen die Zahlen 35 für die Altersgruppe unter zehn Jahren und 30 für die Gruppe der Zehn- bis Neunzehnjährigen. Die Summe beträgt 65, der Vergleichswert aus der Tabelle mit dem Stand vom 12. Januar ist 48.

          Von verschiedenen Seiten wurde der NDR darauf hingewiesen, dass die Kritikerin durch Subtraktion dieser amtlichen Daten zu ihrer Zahl gelangt war. Markus Pössel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg und dort für Wissenschaftskommunikation zuständig, widmete dem Faktencheck des ARD-Nachrichtenressorts in seinem Blog auf der Seite der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ einen erschöpfenden Meta-Faktencheck mit verheerendem Resultat.

          Änderung einen Tag später

          Gensing zeigte sich auf Twitter zu­nächst unbelehrbar. „Kurz dazu: die Zahl 65 gibt’s beim RKI, die 17 nicht.“ Einen Tag später wurde der „Faktenfinder“-Text dann doch geändert. Jetzt steht dort: „Die erwähnte Behauptung einer Twitter-Nutzerin, es habe in den vergangenen vier Wochen ‚17 tote Kinder‘ ge­geben, basiert auf einer Rechnung mit ungeprüften Zahlen, die das RKI zu verschiedenen Zeitpunkten veröffentlicht hatte. Das Institut weist in der ent­sprechenden Statistik allerdings extra darauf hin, dass sich die jeweiligen An­gaben noch verändern könnten, da sämtliche gemeldete Todesfälle bei den unter 20-Jährigen geprüft werden. Die bestätigten Zahlen werden mit einem Meldeverzug im Wochenbericht genannt.“

          Die Korrektur vermeidet das Eingeständnis des Fehlers der Redaktion. Nur deshalb hatte Gensing behaupten können, die Herkunft der Zahl bleibe unklar, weil er den nächstliegenden Rechercheschritt unterlassen hatte. Ihm war die Sa­che unklar geblieben. Das kann vorkommen, da man jede Recherche irgendwo abbrechen muss. Der Faktencheck soll aber ein besonders gründliches Verfahren sein, mit dem der Journalismus die systematische Selbstkritik imitiert, wie sie die Wissenschaft im Anschluss an Karl Poppers Einsicht pflegt, dass Gewissheit den Versuch der Falsifikation voraussetzt.

          Pössel weist darauf hin, dass Gensings Text dem formalen Standard der Gattung nicht genügt: „Ein Faktencheck sollte klar benennen, welche Aussagen er überprüft. Er sollte dann die für die Überprüfung entscheidenden Daten und Informationen benennen, auf die er sein Urteil stützt, dabei nichts Relevantes übersehen, und auf diese Weise am Ende zu einem Urteil über die genannten Aussagen kommen.“ Gensing gab Prien mittels einer Anhäufung von Expertenmeinungsäußerungen recht, ohne auch nur zu klären, was genau sie mit der Unterscheidung von Toden „mit“ und „wegen Covid-19“ gesagt hatte.

          Statt zuzugeben, dass eine Privatperson besser informiert war als der Recherchespezialist, und sich zu entschuldigen, macht Gensing die Sache noch schlimmer, indem er im korrigierten Text suggeriert, die „Rechnung mit ungeprüften Zahlen“ sei unseriös. Auf Twitter setzte er hinzu, er wolle einen „Hinweis in Sa­chen Lesekompetenz“ geben. Es geht aber um die von den Gesundheitsämtern bezogenen Rohdaten, auf denen nun seit zwei Jahren die Einschätzung des jeweils jüngsten Standes der Pandemie beruht. Alle Aussagen über Zu- und Abnahme von Fällen rechnen Zahlen zusammen, die zu verschiedenen Zeitpunkten veröffentlicht werden. Die Pädagogin stützte sich auf eine kontinuierlich aktualisierte Tabelle. Der Zuwachs um siebzehn Fälle in vier Wochen ist „ein beeindruckend starker Anstieg“ (Markus Pössel), wie im­mer er sich nach Prüfung jedes einzelnen Falls erklären mag.

          Den Kampf gegen Fake News führt Gensing auch mit Vorträgen und Bü­chern. Die Vermarktung des „Faktenfinders“ unter der Marke „Tagesschau“ kalkuliert mit dem Nimbus der Objektivität, die man der Hauptnachrichtensendung immer noch zuschreibt. Der „Faktenfinder“ möchte den großen amerikanischen Medienorganisationen nacheifern, die das „fact-checking“ professionalisiert haben. Dort dient es aber zuerst der Selbstkontrolle. Hier hat die ARD eine Einzelperson, die weder Politiker noch Journalist ist, die Ar­roganz ihrer Macht spüren lassen.

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