Die Öffentlich-Rechtlichen : „Wir müssen die große Reform wagen, jetzt“
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ARD-Vorsitzender und WDR-Intendant Tom Buhrow Bild: dpa
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht keine Sparrunden. Er braucht eine tabulose Richtungsdebatte und einen neuen Gesellschaftsvertrag. Wie sähe der aus? Ein Gastbeitrag
Mir ist wichtig, dass ich nicht als ARD-Vorsitzender vor Sie trete. Ich spreche nur für mich. Denn ich werde etwas tun, was in der medienpolitischen Debatte absolut unüblich ist: Ich werde einfach sagen, was ich denke. Ohne Tabus, ohne die üblichen Rücksichtnahmen – und folgerichtig: nicht im Namen der ARD. Sondern in meinem eigenen Namen und auf mein eigenes Risiko. Das passt ja auch zum Überseeclub; denn der Überseeclub symbolisiert das hanseatische Motto, über Horizonte hinauszudenken. „Mein Feld ist die Welt.“
Jeder von uns hat ja die Ereignisse um den Rundfunk Berlin-Brandenburg mitbekommen, die in diesem Sommer ans Licht gekommen sind. Es ging in der Debatte um den RBB am Anfang um konkrete Vorwürfe gegen Leitung und Aufsicht. Um umstrittene Beraterverträge, Abrechnungen von heimischen Essen, Fragen von unterbliebenen Ausschreibungen bei Umbauprojekten und manches andere. Dann wurde der Blick geweitet. Es wurden Fragen aufgeworfen, die zu jeder Zeit legitim sind und die auch periodisch immer wieder kritisch gestellt werden. Die aber nur bedingt etwas mit den ursprünglichen Skandalen zu tun haben.
Die Debatte wurde immer gereizter – und zwar überall. Auch hier im Norden. Aber im Laufe der letzten Wochen und Monate wurde eins klar: Das ist keine Debatte mehr um Einzelthemen. Es ist eine Grundsatzdebatte.
Neuerscheinungen und Klassiker – Schriftsteller und literarisches Leben
ALLE FOLGENIch setze voraus, dass wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk grundsätzlich schätzen. Aber jetzt geht es um nichts Geringeres als um die Frage: Was wollen wir von einem gemeinnützigen Rundfunk im 21. Jahrhundert? Wieviel gemeinnützigen Rundfunk wollen wir? Aber auch, im Umkehrschluss: Was wollen wir nicht? Oder nicht mehr?
Das ist die Kernfrage. Aber in der Kakophonie der gereizten Äußerungen sprechen zwar viele von Reform, aber fast alle meinen eigentlich Teil-Reform. Die für die Medienpolitik zuständigen Länder sagen zu den Sendern: „Ihr müsst noch viel umfassender kürzen! Und dabei möglichst das Programm nicht antasten.“ Wir Sender sagen zur Politik: „Wir kürzen schon lange jenseits des Programms! Wenn ihr eine kleinere Rechnung wollt, müsst ihr auch weniger bestellen.“
Ich muss das erläutern: Was wir alle bezahlen an Rundfunkbeitrag, folgt dem gesetzlichen Auftrag. Der letzte Vorsitzende der KEF, der unabhängigen Kommission, die unseren Finanzbedarf ermittelt – der hat es der Politik immer wieder öffentlich gesagt: „Alles, was die Sender machen, haben Sie – die Politik – denen in Staatsverträge und Landesrundfunkgesetze geschrieben.“ Die Sender sagen, sie müssten erfüllen, was gesetzlich aufgetragen ist. Stellen Sie sich vor, NDR-Intendant Jochen Knuth – der ja hier auch im Raum sitzt – würde eine der Radiowellen hier im Norden einfach abschalten.
Niemand traut sich aus der Deckung
Die Länder sagen aber, die Staatsverträge ließen genug Spielraum, um etwas wegzulassen. Nur: Wer etwas weglässt, kriegt die volle Empörungswelle ab, die so etwas nach sich zieht – die Empörungswelle des Publikums, das auf liebgewonnenes Programm verzichten soll; die Empörungswelle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen; und die Empörungswelle der Lobbygruppen, die das jeweilige Genre verteidigen. Ich gehe gleich noch darauf ein. Hier ist mir nur wichtig, Ihnen klar zu machen: Jeder hat Angst, mit diesem Risiko allein gelassen zu werden. Die Folge: Niemand traut sich aus der Deckung. Alle belauern sich. Medienpolitik und Senderchefs belauern sich. ARD und ZDF belauern sich, wer bekommt prozentual mehr vom Beitragskuchen ab, wer weniger? Es ist ein bisschen wie Mikado: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
Denn natürlich hat jedes Bundesland, hat jeder Sender seine Eigeninteressen. Ein Beispiel. Die damalige Vorsitzende der ARD hatte Anfang des Jahres ein Projekt: einen Nachrichtenkanal für die ARD. Dafür gäbe es zwei mögliche Gefäße: Das sind Phoenix mit seinem Hauptstandort in NRW und tagesschau24 hier in Hamburg. Natürlich sind da Eigeninteressen berührt. Der WDR will Phoenix stärken, der NDR will tagesschau24 stärken. Aber wir mussten auch total aufpassen – denn zu Recht schaut die KEF sehr genau darauf, ob wir irgendwo Doppelstrukturen schaffen. Also mussten wir die beiden Kanäle sauber voneinander abgrenzen. Wir haben das gut gelöst, glaube ich. Aber es war schwierig, die Abmachung war sehr kleinteilig, was bekommt der WDR, was bekommt der NDR – und ich glaube, dieses Beispiel zeigt die Mechanik ganz gut.
Und die Medienpolitik funktioniert nach der gleichen Mechanik. Medienpolitik ist in Deutschland Ländersache. Um etwas zu verändern, brauchen Sie die Einstimmigkeit der Länder. Aber gleichzeitig hat natürlich jedes Bundesland individuelle Interessen. Diese Interessen bestimmen den Blick jeder Staatskanzlei. Jede einzelne Staatskanzlei findet genau zwei Sender gut: Alle sind vom ZDF überzeugt. Denn jede Landesregierung entsendet eine Vertreterin oder einen Vertreter in die Aufsichtsgremien des ZDF. Sie weiß, was da passiert. Sie sieht, wie verantwortungsvoll dort mit Geld umgegangen wird. Die zweite Anstalt, für die man besonderes Verständnis hat, ist die eigene Landesrundfunkanstalt aus der ARD. Da ist man mindestens mit Beobachterstatus vertreten, man weiß auch, wie dort kontrolliert wird und wie die Budgets aussehen. Jenseits dieser zwei Sender beginnt in der Fantasie das Reich unendlicher Einsparmöglichkeiten.
Die Länder haben Eigeninteressen
Ich war in den letzten Jahren mehrfach in Sachsen-Anhalt im Landtag. Auch, als es um die letzte Beitragserhöhung ging. Nirgendwo sonst war die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendern so laut. Also habe ich die Abgeordneten gefragt: „Sie wollen uns kleiner? Okay, wir sind ja reformbereit. Vor Ihnen steht ein Reformer. Sagen Sie mir also bitte: Welche Ihrer eigenen Landes-Radiowellen beim Mitteldeutschen Rundfunk möchten Sie streichen?“ Antwort, und ich denke mir das nicht aus: „Bei uns keine! Wir sind genau richtig aufgestellt.“ Standortinteresse!
Stattdessen hatten die Abgeordneten einen anderen Vorschlag: Der Saarländische Rundfunk möge doch bitte abgeschafft und fusioniert werden. Sachsen-Anhalt habe schließlich zwei Millionen Einwohner, das Saarland nur eine Million. Pech ist nur: Auch das Saarland hat eine besondere Geschichte und eigene Interessen. Erinnern Sie sich, wie die Reaktion war, als mein Intendanten-Kollege Kai Gniffke – der zukünftige ARD-Vorsitzende ab Januar – seinen Vorschlag für eine enge Kooperation zwischen Saarländischem Rundfunk und Südwestrundfunk gemacht hat? Zur Erinnerung: Kai Gniffke hatte vorgeschlagen, beide bleiben im Programm eigenständig. Aber jenseits des Programms werden Synergien gehoben: sehr enge Zusammenarbeit in der Verwaltung, der Produktion, in der Werbevermarktung. Aber sofort kam heftiger Gegenwind vom Saarländischen Rundfunk und von der Landesregierung des Saarlands. Auch der Bremer Bürgermeister, Andreas Bovenschulte, hat gerade noch die Existenz einer eigenständigen Landesrundfunkanstalt in Bremen als „nicht verhandelbar“ bezeichnet. Ich werfe denen das nicht vor – eine Landesregierung schaut auf den Standort, denn es geht ja immer auch um Arbeitsplätze. Und Medienstandorte waren immer schon attraktiv. Ich verstehe die Motivation der Landesregierungen. Aber das kann man der ARD nicht vorwerfen, denn da haben wir noch nicht mal etwas mitzureden.
Es ist ja nicht so, als ob es in der ARD keine Fusionen gegeben hätte. Etwa, als aus dem Sender Freies Berlin und dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg der RBB wurde. Oder als aus dem Süddeutschen Rundfunk und dem Südwestfunk der SWR entstand. Dahinter steht die wichtige Frage: Wie viele unabhängige Rundfunkanstalten sollen zur föderalen Struktur und Vielfalt in Deutschland gehören? Dies wird nicht Sender für Sender und Bundesland für Bundesland zu lösen sein – sondern nur im großen Zusammenhang. Es gibt aber nicht nur die Standortinteressen der Länder und der Sender. Dann gibt es ja noch die Interessenverbände. Und wenn Sie sich als Intendant mit denen anlegen, dann müssen Sie befürchten, dass Sie heftigsten Widerstand bekommen.
Chöre und Orchester müssen finanziert werden
Vor ein paar Jahren, 2020, da lagen beim Norddeutschen Rundfunk Pläne für einen Umbau des Chors auf dem Tisch. Daraufhin gab es öffentlichen Protest von den Vorständen der sechs deutschen Rundfunkchöre, von 16 europäischen Chordirigenten, von den Studentenvertretungen an den fünf Musikhochschulen im Sendegebiet des NDR und vom Deutschen Musikrat. Der Musikrat schrieb, der NDR, Zitat, „rüttelt an den ohnehin instabilen Säulen des kulturellen Bildungsauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.“ Die ARD-Sender würden mit so etwas am „Ast ihrer Existenz“ sägen. Es führt aber nirgendwo hin, wenn man einerseits ständig schimpft, die Sender seien zu groß und zu teuer – aber wann immer wir über eine Reformmaßnahme reden, zieht jeder Lobbyist, jede Gewerkschaft, jeder Interessenverband, jede Landesregierung und jeder Sender einen Zaun um das, was für einen selbst wichtig ist – und fordert oft sogar noch eine Ausweitung: Die Dokumentarfilmer mehr Dokumentarfilme, die Kulturlobby mehr Kultur, die Nachrichtenjournalisten mehr Nachrichten, die Produzenten mehr Filmproduktionen. Und so weiter und so weiter.
Ich wollte Ihnen diese Mechanik einmal so schildern, um klarzumachen, warum wir in der Debatte so feststecken. Und warum die großen Fragen in dem Klein-Klein zwischen Ländern und Sendern nicht zu lösen sind. Wir brauchen einen runden Tisch in Deutschland, der die großen, grundsätzlichen Fragen beantwortet und befriedet für eine lange Zeit. Wir brauchen einen Generationenvertrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das muss das Ziel sein. Jeder sieht den großen weißen Elefanten im Raum. Aber wir müssen ihn benennen und mit ihm umgehen. Bisher schleichen wir alle mit Taschenrechnern und Vertragsentwürfen um diesen Elefanten herum und versuchen, ein paar Fortschritte zu erzielen, indem wir an kleinen Stellschrauben drehen.
Und es gibt eine große Illusion: Viele Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks glauben, wenn man die Verwaltungen nur hart genug durchkämmt, dann seien da jedes Jahr Milliarden einzusparen. Und im Programm könnte alles bleiben, wie es ist. Die ARD hat diese Verschlankung jenseits des Programms schon lange begonnen. 2017 wurde eine große Strukturreform angeschoben. Vereinheitlichung der Informationstechnik, Synergien in der Verwaltung, Rentenreform. Das Einsparpotential lag tatsächlich bei einer Milliarde – aber verteilt auf zehn Jahre. Oder die Intendantengehälter: Wir können darüber reden. Ich will mich dem gar nicht verschließen. Ich verstehe, dass die Gehälter der Senderchefinnen und -chefs einen großen Symbolwert haben. Aber: Der Rechnungshofpräsident von Sachsen-Anhalt hat es im Landtag vorgerechnet: Selbst wenn man alle Intendantinnen und Intendanten von ARD, ZDF und Deutschlandradio komplett abschaffen würde, würde der Rundfunkbeitrag nicht mal um einen einzigen Cent sinken. Wer den Rundfunkbeitrag wirklich senken will, der muss auch schmerzhafte Einschnitte in Kauf nehmen. Deutschland braucht einen starken gemeinnützigen Rundfunk, aber einen, der im 21. Jahrhundert angekommen ist. Wir müssen jetzt die Veränderungen einleiten, die wir in einem Jahrzehnt sehen wollen. Mein fester Eindruck: Deutschland scheint uns in zehn Jahren nicht mehr in dem Umfang zu wollen – und auch finanzieren zu wollen – wie heute.
Neuanfang ohne Denkverbote
Und das sage ich als jemand, der vom gemeinnützigen Rundfunk absolut überzeugt ist. Wir haben seit 70 Jahren mit Herzblut und Leidenschaft für das Land gearbeitet. Gerade erst in der Corona-Pandemie haben wir die Gesellschaft zusammengehalten. Wir haben die Kinder ausgebildet, die nicht in der Schule waren. Wir haben die Menschen darüber informiert, was gerade passiert. Wir haben die Kultur in ihre Wohnzimmer gebracht, als die Konzertsäle geschlossen waren. Aber: All das darf nicht den Blick auf die Zukunft verstellen. Aber auch hier ist es wie bei allen Erfolgsgeschichten: Es zählt nicht mehr, was wir gestern geleistet haben. Wir brauchen einen gedanklichen Neuanfang. Ohne die typischen Selbstverteidigungsreflexe. Ohne Denkverbote.
Erste Frage, die wir uns stellen müssen: Will Deutschland weiter parallel zwei bundesweite, lineare Fernsehsender? Wenn nicht: Was heißt das? Soll einer ganz verschwinden und der andere bleiben? Oder sollen sie fusionieren, und das Beste von beiden bleibt erhalten? Und was ist mit den regionalen Programmen? Sollen sie als Vollprogramme bleiben? Oder in dem einen verbleibenden bundesweiten Programm aufgehen? Wie viele von unseren Spartenkanälen wollen wir weiter im Fernsehen senden? Wie viele wollen wir im Fernsehen abschalten und in die Mediathek verlagern? Wir alle sagen doch ständig, dass die Zukunft im Digitalen liegt. Aber wir alle verteidigen unsere linearen Kanäle.
Ich habe schon vor knapp zwei Jahren gesagt: Ich glaube, dass es im Jahr 2030 eine einzige große, öffentlich-rechtliche Mediathek für non-lineare Inhalte geben wird. Und für Dialog. Ein „gemeinnütziges Kommunikationsnetzwerk“, wie es Karola Wille, die Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks, genannt hat. Das wird so oder so kommen. Und wissen Sie, warum? Weil die Nutzerinnen und Nutzer es wollen! Weil wir nur gemeinsam so stark sein werden, dass wir Netflix und Co. die Stirn bieten können.
Wollen wir so viele Rundfunkorchester?
Nächstes Tabuthema: Kultur. Mit der Lobby legt sich niemand an. Dann wird man als Kultur-Banause oder sogar Kultur-Vernichter dargestellt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat nach dem Krieg die Kultur wieder in die zerbombten deutschen Städte gebracht; in Köln wurde 1947 das Sinfonieorchester des NWDR gegründet, und es spielte Anfang der 50er Jahre im ersten Veranstaltungssaal, der in Köln überhaupt wieder verfügbar war: im Konzertsaal des Funkhauses des NWDR. Ein Zeichen der Hoffnung in einem zerbombten Land. Das war wichtig. Außer uns hat das damals niemand auf die Beine gestellt. Und es galt auch, in den Anfängen des Rundfunks lange Programmstrecken zu füllen, auch mit Musik – auch dafür wurden die Orchester gebraucht. Kurz: Der kulturelle Bereich insgesamt musste gestützt werden, weil er am Boden lag.
Und auch heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich unser WDR Sinfonieorchester höre. Am Freitag hatte es 75-jähriges Jubiläum, auch die Chöre von NDR und WDR waren dabei. Es war musikalisch ein Fest. Das sind Spitzenorchester mit Spitzendirigenten – das gilt auch für die anderen Sender. Ihres spielt in der wunderbaren Elbphilharmonie. Aber die Rolle der Orchester des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist heute eine andere als früher. Es gibt in Deutschland mehr als 120 Berufsorchester. So viele wie in keinem anderen Land. Die ARD unterhält insgesamt 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre. Etwa 2000 Menschen, fast alle fest angestellt. Obwohl die zu den besten ihrer Zunft gehören – wir können auch hier der Frage nicht ausweichen: Wollen die Beitragszahler das? Wollen sie es in dieser Größenordnung? Oder wollen sie ein Best Of? Das beste Sinfonieorchester, den besten Chor, die beste Big Band, das beste Funkhausorchester? Übrigens: RBB und Deutschlandfunk haben schon nach der Wiedervereinigung Deutschlands ein kluges Modell gewählt. Die Orchester wurden in eine Stiftung verlagert – mit Beteiligung von Land und Bund.
Eine weitere Zahl, die mir im Landtag von Sachsen-Anhalt vorgehalten wurde: 64 Hörfunkwellen allein in der ARD. Plus die Wellen des Deutschlandradios. Warum gibt es so viele? Die Frage ist berechtigt – vor allem, weil es einiges doppelt gibt. Hört sich Beethoven in Heidelberg anders an als in Halle oder Hamburg? Nein? Brauchen wir dann in der ARD mehrere Radios für klassische Musik? Das Gleiche gilt für Schlagerwellen oder Info-Radios. Aber ein bundesweites Klassikradio verhindern nicht nur regionale Egoismen. Bundesweite Radiowellen sind der ARD schlicht verboten. Nur der Deutschlandfunk darf das, die ARD darf das nicht.
Warum noch Radio-Föderalismus?
Nach dem Krieg steckte den Vätern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch in den Knochen, wie der sogenannte Reichsfunk als zentrales, bundesweites Propagandainstrument missbraucht worden war. Die föderale Verfasstheit des Radios hatte also einen guten Grund. Wie so vieles, mit dem wir heute leben. Und mit dessen Folgen wir uns jetzt beschäftigen müssen. Lassen Sie uns offen über bundesweites Radio diskutieren. Passend dazu könnte man die ARD Audiothek auf den gesamten deutschsprachigen Raum ausdehnen – mit zusätzlichen Inhalten vom Österreichischen Rundfunk und vom Schweizer Rundfunk.
Sie haben jetzt einen Eindruck davon, was eine große Reform des gemeinnützigen Rundfunks bedeuten würde. Und eine unangenehme Wahrheit müssen alle akzeptieren, denen es um Beitragssenkung geht: Wenn man den Beitrag reduzieren will, muss man den Umfang unseres Angebots reduzieren. Und das bedeutet jede Menge Konflikte. Zum Teil mit den Nutzern, die dann weniger Angebot haben. Und mit denen, die von der Produktion unserer Inhalte leben. Arbeitsplätze würden verloren gehen. Nicht nur in den Sendern, sondern auch bei den Produktionsfirmen, die für uns Filme, Dokumentationen und mehr produzieren. Aufträge für freie Mitarbeiter würden wegfallen.
Solche Konflikte mutet sich kein Senderchef, aber auch keine Landesregierung alleine zu. Aus gutem Grund. Wir dürfen mit den Existenzen von Tausenden Menschen nicht leichtfertig umgehen. Ich habe jeden Tag mit den Sorgen der Menschen zu tun, die von uns leben. Und ich verstehe diese Sorgen. Aber ich sehe keine Alternative zu dem Weg, den ich vorschlage. Wissen Sie, warum? Weil wir jetzt noch an einem Punkt sind, an dem wir verantwortungsvoll die Zukunft des gemeinnützigen Rundfunks selbst mitgestalten können.
Wir brauchen einen Runden Tisch
Und um den Menschen, die von uns leben, die Angst vor diesen großen Fragen etwas zu nehmen: Der letzte Vorsitzende der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, der KEF, hat Folgendes an die Adresse der Medienpolitik gesagt. „Wenn Sie jetzt entscheiden, etwas zu kürzen – dann haben Sie nicht von heute auf morgen eine Kostenreduktion. Denn die Leute sind ja nicht weg.“ Das stimmt. Die Aufgabe wäre, einen 10- oder 15-Jahresplan aufzustellen. Mit einem klaren Ziel: ein schlanker, starker und moderner gemeinnütziger Rundfunk. Und der Weg dorthin müsste unserer sozialen Verantwortung gerecht werden. Wir haben beim WDR über fünf Jahre hinweg 500 Planstellen abgebaut. Das war nicht einfach, aber es war möglich, weil wir es über die Zeitschiene gestreckt haben. Das war extrem konfliktreich. Aber es wäre nur ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Konflikten, die eine große Reform des gemeinnützigen Rundfunks auslösen würde. Konflikte mit Gewerkschaften, Konflikte mit Produzentenverbänden, Konflikte mit Kulturverbänden, Sportverbänden und und und.
Sie sehen, wie folgenreich die Fragen sind, die im Raum stehen. Noch einmal: Solche Konflikte können ARD, ZDF und Deutschlandradio nicht alleine bestehen. Aber ich sehe ein, dass die Medienpolitik das auch nicht alleine schafft. 16 Bundesländer unter einen Hut zu kriegen, ist ja noch schwieriger als ARD, ZDF und Deutschlandradio. Also gibt es nur eine Lösung: Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Runden Tisch.
Verlässlichkeit für mindestens eine Generation
Ich möchte eine ehrliche Diskussion und signalisiere für meine Person ehrliche Gesprächsbereitschaft. Das Gespräch darf nicht mehr stattfinden zwischen den Experten der Medienpolitik auf der einen Seite und den Experten der Sender auf der anderen Seite. Übrigens: Auch in den Aufsichtsgremien sitzen Vertreterinnen und Vertreter von Organisationen, die in dieser Diskussion etwas zu verlieren haben.
Der CSU-Politiker und Chef der bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann, brachte auf den Münchner Medientagen den Vergleich zum „Parlamentarischen Rat“ ins Gespräch: Diese Runde machte nach dem Zweiten Weltkrieg den Entwurf unserer Verfassung. Etwas Ähnliches brauchen wir tatsächlich auch für den gemeinnützigen Rundfunk. Der Runde Tisch muss Grundsatzfragen lösen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Erstens: Wir müssen aus dem bisherigen System ausbrechen. Zweitens: Wir brauchen dafür einen Runden Tisch, der einen neuen Gesellschaftsvertrag ausarbeitet. Eine Art verfassungsgebende Versammlung für unseren neuen, gemeinnützigen Rundfunk. Drittens: Es darf an diesem Runden Tisch keine Tabus, keine Denkverbote geben. Viertens: Wenn wir uns über das Ziel einig sind, brauchen wir Zeit, um es zu erreichen. Und dann Verlässlichkeit und Sicherheit für mindestens eine Generation. Einen Generationenvertrag.
Ich bin mir bewusst, was ich hier auslöse. Man spricht als Intendant normalerweise nie über andere Sender der ARD, schon gar nicht über das ZDF, und auch nicht über die Rundfunkkommission der Länder. Aber es sind keine normalen Zeiten. Deutschland wird in 20 Jahren nicht mehr alle öffentlich-rechtlichen Sender finanzieren wollen. Wenn wir jetzt nicht verantwortungsvoll und ehrlich einen Neuanfang machen, wird es schlimmstenfalls keinen Neuanfang geben. Aber dafür ist der gemeinnützige Rundfunk einfach zu wichtig. Ich habe ihm mein ganzes Berufsleben gewidmet und war für ihn in etlichen Ländern. Ich habe gesehen, welche Gefahren drohen, wenn Länder keinen oder nur einen schwachen gemeinnützigen Rundfunk haben. Ob Sie in die USA schauen oder vor unserer Haustür in Osteuropa. Und selbst im Mutterland der Demokratie und des gemeinnützigen Rundfunks brauchen Sie sich nur kurz vorzustellen, was ohne die BBC von der publizistischen Vielfalt übrig wäre.
Es fällt mir nicht leicht, die Grundsatzfrage zu stellen. Aber ich bin überzeugt: Wer sich Veränderungen verschließt, verhindert die Zukunft. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat mir eine Berufung und eine Heimat gegeben. Ich empfinde ein großes Verantwortungsgefühl für unsere Aufgabe, für unsere Mitarbeitenden und für unser Publikum. Aus genau dieser Verantwortung heraus müssen wir den gemeinnützigen Rundfunk für die Zukunft neu verankern.
Der Text ist die gekürzte Version einer Rede, die Tom Buhrow am Mittwochabend vor dem Übersee-Club Hamburg gehalten hat.