ARD-Film „Elternschule“ : Darf man so mit Kindern umgehen?
- -Aktualisiert am
Außer Rand und Band: In dem Film „Elternschule“ geht es um Extremfälle von Erziehung. Bild: SWR/Jörg Adolph
In der ARD läuft ein Dokumentarfilm über Kinder, an denen Eltern verzweifeln. Er war kurz im Kino zu sehen – und sorgte für Kontroversen bis zu einer Strafanzeige. Was ist an „Elternschule“ so schlimm?
Ein Kind will nicht essen, eines nicht trinken, ein drittes nicht schlafen. Ein kleines Mädchen schreit vierzehn Stunden am Tag, ein kleiner Junge wird wild, ein anderer kratzt sich blutig. Ein Mädchen ernährt sich ausschließlich von Milch, Pommes und Chicken Nuggets. Die Eltern – oder besser gesagt: die Mütter – sind verzweifelt. Sie sind, wie ihre Kinder, mit den Nerven am Ende. In der Abteilung „Pädiatrische Psychosomatik“ der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen hoffen sie auf Hilfe, die sie andernorts nicht gefunden haben. Eine Mutter sieht sonst nur noch den Ausweg, ihre Tochter in ein Kinderheim zu geben. Dramatischer geht es kaum. In der Klink aber wird ihnen geholfen. Nach drei Wochen scheint die akute Notlage, in der sie sich befinden, behoben. Nur in einem Fall, in welchem der Vater das Problem zu sein scheint und die Mitwirkung verweigert, vermag die Therapie nicht zu verfangen. Bei den anderen führen Schlaf-, Ess- und Verhaltenstraining, Psychotherapie und „Erziehungscoaching“ zum Erfolg.
So zeigt es der Dokumentarfilm „Elternschule“ von Jörg Adolph und Ralf Bücheler, den das Erste heute Abend ausstrahlt. Als er im November vergangenen Jahres in einigen Programmkinos lief, war die Presse zunächst voll des Lobes für die Arbeit der beiden renommierten Autoren. „Elternschule“ wurde für den Deutschen Dokumentarfilmpreis nominiert. Doch dann setzte ein, was die ARD in ihrem Begleittext als „Shitstorm“ bezeichnet, „der erst die sozialen Medien überschwemmte und schließlich kontroverse Diskussionen in der Presse auslöste“.
Das ist eher unter- als übertrieben. Noch bevor der Film zu sehen war und als man sich ein Urteil nur anhand eines kurzen Trailers bilden konnte, schlugen die Wogen hoch. Der Kinderschutzbund äußerte sich kritisch. Eine Petition, die inzwischen knapp 23.000 Unterzeichner hat, forderte ein „Ausstrahlungsende“ des Films und eine „Überprüfung der Klinikabteilung“. Zu der kam es aufgrund einer Strafanzeige tatsächlich. Die Staatsanwaltschaft Essen leitete Ermittlungen ein, um bald festzustellen, dass in dem Film nichts zu sehen gewesen sei, „was als Straftat zu werten wäre“. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster, der die Riege der Kritiker anführt, sah das ganz anders. Auf einer von ihm betriebenen Website schreibt er: „Was mich an diesem Film vor allem wundert, ist die Schamlosigkeit, mit der erzieherische Gewalt dargestellt, glorifiziert und auch medikalisiert wird“. Es sei erschütternd „dass wir das Geheimnis der guten Erziehung wieder in Härte und bedingungsloser Unterwerfung suchen“. Die Klink wies die Vorwürfe als gegenstandslos zurück.
Was ist da los? Strahlt die ARD tatsächlich einen Film der zeigt, wie Kindern Gewalt angetan wird, und der das auch noch beklatscht? Der Vorwurf macht die beiden Filmemacher, wie sie in der „Süddeutschen Zeitung“ bekunden, fassungslos. „Wir zeigen keine Gewalt gegen Kinder!“, ruft Ralf Bücheler dort aus. Sie hätten „in jedem Moment nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagt Jörg Adolph in der SZ, aber vielleicht seien „die Zeiten für so einen Film einfach vorbei“, in einer „Gesellschaft des Zorns“, wo „in den Hinterhöfen des Internets“ die Leute erst zufrieden seien, „wenn sie die Knochen brechen hören“. Knochenbrecher und Debattenkiller gibt es in diesen digitalen Zeiten in der Tat viele. Tonangebend werden nicht nur bei politischen Themen zunehmend Leute, für die es nur Schwarz und Weiß und keine Graustufen gibt, ganz gleich, worum es geht.
Und nur mit einer solch brutalistischen Weltsicht und Betrachtungsweise kann man zu dem Ergebnis kommen, der Dokumentarfilm „Elternschule“ huldige der Gewalt gegen Kinder. Was wir vielmehr sehen – in der neunzigminütigen Fassung im Ersten –, sind Szenen der Verzweiflung und der Verständigung. Wir hören die Geschichten der Mütter (dass keine Väter dabei sind, dürfte ein Teil des Übels sein), die familiäre Situationen schildern, welche Kinder und Eltern von Geburt an unter, um es zurückhaltend auszudrücken, Stress setzen. Wer offene Augen und Ohren hat, kann sich die Zusammenhänge an fünf Fingern abzählen und ein Urteil bilden, das die Regisseure Jörg Adolph und Ralf Bücheler eben nicht, wie es heute im Journalismus üblich ist, durch einen eigenen Kommentar vorgeben. Sie lassen die Dinge und die Beteiligten für sich sprechen. Man nennt das teilnehmende Beobachtung, klassische Dokumentarfilmschule.
Diese verlangt dem Zuschauer allerdings ab, Szenen mit schreienden kleinen Kindern auszuhalten und nicht selbst gleich schreiend davonzulaufen, sondern die Gespräche mit den Eltern hinzuzunehmen und insbesondere das Eltern-Coaching des Psychologen Dietmar Langer, der den Müttern beibringt, von ihrem eigenen Verhalten auf dasjenige ihrer Kinder zu schließen, diesen aber auch in aller Deutlichkeit Grenzen zu setzen. Nimmt man die Szenen hinzu, die zeigen, wie Kinder daran gewöhnt werden, zu schlafen, zu essen, nicht um sich zu schlagen, und sich die Klinikmitarbeiter dabei eher kühl verhalten, könnte man auf die Idee kommen, hier werde „schwarze Pädagogik“ betrieben, also mit Zwang, um Kinder zu erwünschtem Verhalten zu bringen und zu dressieren. In diese Richtung zielt auch die Kritik des Kinderarztes Herbert Renz-Polster, der für eine „bindungsorientierte“ Therapie eintritt, also eine, bei der nicht nur die Kinder, sondern alle in der Familie gefordert sind, für ein Umfeld zu sorgen, in dem die Jüngsten keinen Grund zu einem derartigen Verhalten haben, wie es in diesem Film zu sehen ist. Der in der Gelsenkirchener Klinik verfolgte Therapieansatz legt seinen Schwerpunkt indes auf das Verhalten der Kinder, das sowohl erklärbar als auch von den Eltern korrigierbar sei – so diese auch an sich selbst arbeiten.
Das Missverständnis indes, welches das Echo auf den Film „Elternschule“ kennzeichnet, legte der Ärztliche Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jörg Fegert, im Gespräch mit der „Märkischen Allgemeinen“ dar. Mit „schwarzer Pädagogik“ habe das Gezeigte nichts zu tun, sagte er. Die Therapieinhalte seien „lege artis – entsprechen also den Regeln der „ärztlichen beziehungsweise psychotherapeutischen Kunst“. Doch gelte dies unter der Voraussetzung, „dass die Interaktionen im Kontext mit der Schwere der Krankheitsbilder zu sehen sind. Die Methoden sind das letzte Mittel, bevor sich die Kinder massiv selbst schädigen und in Lebensgefahr geraten oder Eltern drohen, die Selbstkontrolle zu verlieren und es zu Misshandlungen kommen könnte“. Haben die Kritiker nicht doch recht? „Nicht“, sagt der Jugendpsychiater Jörg Fegert, „wenn man das Ganze als Krankenbehandlung sieht – schon, wenn man das als allgemeine Elternschule oder Erziehungsempfehlung ansieht.“
Das kommt einem in den Sinn, wenn man den Film „Elternschule“ sieht, dessen Titel vielleicht dazu verleitet hat, dies als Handlungsanleitung für alle Lebenslagen mit Kindern zu halten. Wobei man jetzt – im Nachhinein, nach der „Kontroverse“ und vor der Ausstrahlung im Fernsehen –, selbstverständlich schlauer ist und leichter reden hat als diejenigen, die vorher kamen. Und nicht vergessen darf man, wie ideologisch vermint das Thema Erziehung seit jeher ist. Es rührt an unser Menschenbild, an die Frage, wer und was der Mensch ist, wenn er auf die Welt kommt – ein Idealwesen, wie es sich Rousseau vorgestellt hat, das man in seiner freien Entwicklung nicht behindern darf, oder ein junger Wilder, dem man Grenzen setzen muss, weil er diese selbst nicht kennt – die Kinderklinik in Gelsenkirchen handelt eher nach dieser Annahme.
Was der Direktor des Essener Caritasverbandes und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), Björn Enno Hermans, der zu den Kritiker des Films zählt, dazu zu sagen hat, wirkt auf der einen Seite etwas fadenscheinig: „Man muss Kinder begrenzen, aber nicht so.“ Familien in solchen Fällen brauchten „systemübergreifende Hilfen“. Das klingt nach Wunschdenken, das Eltern, deren Kind mit einer Sonde ernährt werden muss, akut nicht weiterhilft. Andererseits liegt Hermans richtig mit der Einschätzung, dass die ARD einen solchen Film nicht einfach „raushauen“ sollte. Eine „anschließende Diskussion oder eine andere Form der Einordnung und Kommentierung“ sei vonnöten.
Da dieser Tage andauernd alles eingeordnet, vorsortiert und in das richtige „Framing“ gepresst wird, wäre unseres Erachtens eine Diskussion das richtige Mittel der Wahl gewesen. Was würde sich für eine Kontroverse, welche die Lebenswelt vieler Menschen berührt, besser eignen als dieser Film mit diesem Thema?
Für wünschenswert hielte dies auch der Regisseur Jörg Adolph, wie er im Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte. In diesem ging es um den Zweifel, den Adolphs Gesprächspartner Dieter Kassel, wie er ehrlicherweise sagte, nach einem früheren Gespräch und dem dazwischenliegenden Kritikfeuerwerk auch an seinem eigenen Urteilsvermögen überkam: Der Zweifel daran, wie das, was wir hier sehen, zu werten sei.
Solche Zweifel ließen sich in einer Debatte, die nicht mit den Mitteln der Überwältigung geführt wird, am besten aufgreifen. Allein – diese Gelegenheit verpasst die ARD. Der Südwestrundfunk, der den Film „Elternschule“ ins Gemeinschaftsprogramm des Ersten einbringe, habe dafür kein Angebot gemacht und keinen Wunsch nach einer begleitenden Diskussion geäußert, heißt es auf Anfrage bei der ARD-Programmdirektion. Unter einer Internetadresse, die in den Film eingeblendet und bald freigeschaltet werde (https://www.daserste.de/elternschule), soll es aber weiterführende Informationen geben.
Eine Diskussion indes, so sie nicht zum Brüllaffentreff ausartet, wäre auch ein gutes Zeichen gegen die Knochenbrecher aus dem Internet, von denen Jörg Adolph in der SZ spricht. Diese sollten nicht das letzte Wort haben, und es sollte für einen Film wie „Elternschule“, von dem Adolph und Bücheler sagen, dass sie ihn heute nicht noch einmal drehen würden, auch nicht vorbei sein. Anschauen sollte man ihn auch, und sich selbst ein Urteil bilden.
Elternschule läuft heute, Mittwoch 3. Juli, um 23 Uhr im Ersten.