TV-Kritik Anne Will : Vorsicht vor der eigenen Anschauung
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Zu Gast bei Anne Will (Mitte): v.l. Christoph Schwennicke (Journalist), Johann David Wadephul (CDU), , Michael Müller (SPD), Claudia Major (Politikwissenschaftlerin und zugeschaltet Ursula von der Leyen (CDU, EU-Kommissionspräsidentin), Dmytro Kuleba (Außenminister der Ukraine) Bild: NDR/Wolfgang Borrs
Der ukrainische Außenminister lobt bei „Anne Will“ den deutschen Kanzler, wenigstens ein bisschen. Für dessen Parteifreund Michael Müller könnte es sich lohnen, auch einmal nach Kiew zu fahren.
Es war einer der Tiefpunkte in den an Tiefpunkten wahrlich reichen deutschen Debatten über den Ukrainekrieg, als der einstige Regierende Bürgermeister von Berlin und jetzige SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Müller im April die Reise seiner drei Parlaments- und Koalitionskollegen Michael Roth (SPD), Anton Hofreiter (Die Grünen) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) in die Ukraine kritisierte. Sie seien durch die Bilder und die Gespräche vor Ort voll mit Emotionen zurückgekommen und hätten die Bundesregierung dann sehr schnell aufgefordert, die Ukraine militärisch stärker zu unterstützen, stellte Müller in einem Interview entrüstet fest. Und er schloss: „Aber es gibt keinen neuen Sachverhalt, und es hat insofern die Diskussionen vielleicht unnötig verschärft“. Mit anderen Worten: Nach Ansicht von Müller, immerhin Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, trübt unmittelbare Anschauung die Sinne, und daraus entstehende Ansichten stören die kühlen Analysen, zu denen die Strategen an ihren Schreibtischen in Berlin kommen.
Für Müller muss es ein harter Schlag gewesen sein, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz nun doch nach Kiew aufgemacht hat, nachdem dieser noch vor kurzer Zeit entsprechende Einladungen von ukrainischer Seite nur freundlich zur Kenntnis genommen hatte. Scholz ist dann sogar nach Butscha gefahren, an den Ort, dessen Namen für das erste bekanntgewordene Massaker der Russen in ihrem Krieg gegen die Ukraine steht. Man wüsste gern, was Müller im Studio von Anne Will durch den Kopf ging, als der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf die Frage der Moderatorin antwortete, wie er sich erkläre, dass sich Scholz nun viel eindeutiger zur ukrainischen Seite bekenne als zuvor. Vielleicht liege es daran, dass der deutsche Regierungschef auch in Butscha gewesen sei, sagte Kuleba. Er habe Scholz in dem vierten Gespräch mit dem Kanzler, an dem er, Kuleba, teilgenommen habe, verändert und aufgeschlossen erlebt. Scholz würde den Verdacht, er hätte sich von den Eindrücken am Tatort in seinen Entscheidungen beeinflussen lassen, sicherlich zurückweisen. Müller auch?
Verteidigung notfalls „mit dem Spaten“
An den Worten Kulebas, der per Liveschalte an der Gesprächsrunde teilnahm, war ablesbar, dass der Besuch von Scholz und vor allem dessen offenbar maßgeblicher Einsatz dafür, dass die Ukraine den Kandidatenstatus für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union erhalten soll, die Beziehungen zwischen beiden Ländern erheblich verbessert haben. Der ukrainische Außenminister lobte, Scholz habe etwas Wichtiges getan, das für die noch ausstehende Entscheidung des Europäischen Rates von großer Bedeutung sei. Angesprochen auf deutsche Waffenlieferungen, vollbrachte Kuleba das diplomatische Meisterwerk, seine anhaltende Enttäuschung klar, aber keineswegs schroff zu formulieren. „Wir glauben, dass Deutschland mehr tun könnte“, sagte er, und darüber sei man in offenen wie auch in diskreten Gesprächen. Am Ende aber müssten die deutsche Regierung und ihre Experten entscheiden, wie sie sich verhielten. Derzeit hätten Artillerie und Luftabwehrsysteme oberste Priorität auf der Waffenwunschliste seines Landes. Kuleba wies darauf hin, dass die Russen der ukrainischen Armee im Verhältnis von 15 zu 1 überlegen seien, was die Feuerkraft der Artillerie angehe. All jenen Naiven und Zynikern im Westen, die auch angesichts solcher Zahlen glauben, mit dem Hinauszögern von Waffenlieferungen an die Ukraine womöglich zu einem weniger blutigen Kriegsverlauf beizutragen, der letztlich auch im Interesse der ukrainischen Bevölkerung sei, rief Kuleba zu, dass die Ukrainer sich zur Not mit dem Spaten in der Hand gegen die russischen Aggressoren verteidigen würden.