Prozess Depp gegen Heard : Gesiegt haben Tiktok und Twitter
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Johnny Depp und Amber Heard im Gerichtssaal bei den Schlussplädoyers im Fairfax County Circuit Courthouse Bild: AP
Der Prozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp wurde zu einer medialen Groteske. Sie sagt viel aus über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft.
Wer in dem aufsehenerregenden Prozess zwischen den Ex-Eheleuten Amber Heard und Johnny Depp gewonnen und wer verloren hat, das bemisst sich nicht nur am Urteilsspruch der siebenköpfigen Jury aus fünf Männern und zwei Frauen. Die Schöffen befanden, dass Amber Heard in einem Artikel in der „Washington Post“ aus dem Jahr 2018, in dem sie sich als „Opfer häuslicher Gewalt“ bezeichnet und damit Depp implizit beschuldigt hatte, mit böswilliger Absicht gelogen habe; aber auch, dass Depps Anwalt Adam Waldman mit der Behauptung, Heard habe einen Übergriff Depps für die zur Hilfe gerufene Polizei inszeniert, Heard verleumdete. Die Schöffen urteilten also differenziert – anders als die Menge, die sich in den vergangenen sechs Wochen im Netz formiert hat. „Johnny siegt!“ heißt es hier schlicht, und: „Adios, Amber!“
Dank der Entscheidung der Richterin Penney Azcarate, im Fairfax County Circuit Court, Virginia, zwei Kameras des Gerichtssenders Court TV zuzulassen, wurden nicht nur die Bemühungen um die Wahrheitsfindung im Gerichtssaal in Virginia zum PR-Spektakel hochbezahlter juristischer Teams auf beiden Seiten. In den sozialen Netzwerken entzündeten die Live-Mitschnitte ein hysterisches Tribunal, in dem die Rollen des Helden und der Übeltäterin klar zugewiesen waren, in dem jede neue Enthüllung der gegenseitigen Quälerei zweier emotional instabiler Menschen im Handumdrehen zu erniedrigenden Memes, hämischen Kommentaren, bösen Mini-Videosketchen und niederträchtigen Gerüchten wurde. Die Boshaftigkeiten und Herabwürdigungen richteten sich fast ausschließlich gegen Amber Heard – ganz so, als hätte MeToo nie stattgefunden, als hätte es keinen Erkenntnisgewinn über die vielen Formen von Übergriffigkeit gegeben.
Quoten, Likes und Tweets
Der Prozess um eine ernste Anschuldigung – die von körperlicher und sexueller Gewalt – geriet zum grotesken Zirkus um Einschaltquoten, Likes und Retweets: Der winzige Kabelsender „Law & Crime“ Network, der die Bilder von Court TV ebenfalls sendete, registrierte zur Urteilsverkündigung eine Rekordquote von drei Millionen Zuschauern, auf Tiktok verzeichnete der Hashtag #JusticeForJohnnyDepp bis zur Urteilsverkündung mehr als neunzehn Milliarden Klicks für die hier kursierende Häme über Amber Heard, die sich auf immer neue Audio- und Videomitschnitten aus dem Gerichtssaal stützt.
Richterin Penney Azcarate, deren Kamerafreundlichkeit für den Hype mitverantwortlich war, wies die Jury zwar an, sich von jeglicher Berichterstattung über den Fall fernzuhalten – aber wie realistisch ist das in der Welt, in der wir leben? Wie schalten fünf Männer und zwei Frauen zwischen zwanzig und sechzig Jahren (die genauen Identitäten der Juroren bleiben für zwölf Monate unter Verschluss) über sechs Wochen den Medienzirkus aus, der Rundfunk und Fernsehen, die sozialen Netzwerke, das Internet und die Gespräche am heimischen Frühstückstisch, im Supermarkt und in der U-Bahn dominiert? Man müsste schon in einer Höhle leben, um davon nichts mitzubekommen.
Die „Washington Post“ legt dar, warum Depp womöglich 2020 einen Verleumdungsprozess in England gegen die englische „Sun“, die ihn als „wife beater“ bezeichnet hatte, verloren hat, und nun mit seiner Verleumdungsklage gegen Amber Heard obsiegt: Die britische Verhandlung war von einem Richter entschieden worden, der die von der Zeitung vorgebrachten Anschuldigungen in zwölf von vierzehn Fällen als „erwiesen“ ansah. In der amerikanischen Verhandlung sprach das Urteil eine zur unvoreingenommenen Wahrheitsfindung berufene Jury, die zwar angewiesen war, nicht über die Verhandlung zu lesen, aber nicht isoliert wurde.
Die Verhandlung der gegenseitigen Verleumdungsklagen von Johnny Depp und Amber Heard reflektiert die rasant schrumpfenden Kapazitäten der Amerikaner für wichtige gesellschaftliche Debatten, und sie setzt neue Standards der Auseinandersetzung. Gewonnen haben Netzwerke wie Tiktok und Twitter, auf denen Hohn und Spott und Desinformationen zu einem enormen Nutzerengagement führten; opportunistische Publikationen wie der „Daily Wire“, die mit Anti-Amber-Werbespots Nutzer auf ihre Seiten lockten; und die wachsende Horde von Desinformationshändlern im Netz, die einmal mehr fruchtbaren Boden für wilde Verschwörungstheorien fanden. Verloren hat eine Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, sich ernsthaft mit wichtigen Themen auseinanderzusetzen. Da Amber Heard nach dem Urteil angekündigt hat, in Berufung zu gehen, setzt sich das Spektakel fort.