Neues Westernhagen-Album : Der Angstblüte beim Wachsen zuhören
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Seine Proletarierphase liegt schon länger zurück: Marius Müller-Westernhagen Bild: Olaf Heine/Sony Music
Die Verzweiflung eines Rock'n'Rollers: Marius Müller-Westernhagen liefert mit seinem neuen Album „Das eine Leben“ einen unerwarteten Vitalitätsbeweis.
Es war Martin Walser, der das aus der Botanik bekannte Phänomen der Angstblüte mit einem gleichnamigen Roman in Erinnerung gerufen und aufs Menschliche übertragen hat; da gehört es auch hin. Was man, mit dem Gestus besserwisserischen Ekels, als „Altherrenerotik“ aus dem Bereich selbst des künstlerisch Sagbaren heraushalten will, ist eine mal rührende, mal lächerliche, in jedem Fall eine ernste Äußerung (gefühlt) niedergehender Vitalität, bei den vom Verdursten bedrohten Pflanzen eben in Gestalt von Blüten oder Blättern; beim Menschen, eigentlich nur beim Mann, als noch einmal dramatisch verstärkte, bisweilen vom Hang zur Zote oder zur Übergriffigkeit begleitete Vereinigungssehnsucht, vorzugsweise mit einer Jüngeren. Man kann sich darüber lustig machen, davon angewidert sein, es ganz einfach ablehnen – ein Spaß ist das alles schon deswegen nicht, weil dabei Biologie im Spiel ist, die in ihrer schlechthinnigen Unhintergehbarkeit doppelt gnadenlos scheint: als Alterungsprozess und als nicht nachlassendes Begehren, allgemeiner auch als Erlebnishunger. Für den, der es kann, ist Sublimierung in Gestalt eines Alterswerks nicht der schlechteste Ausweg.
Marius Müller-Westernhagen hätte seine neue, 23. Studioplatte also, mit Martin Walsers freundlicher Genehmigung, gut und gerne „Angstblüte“ nennen können. Die Befürchtung, nicht genug erlebt zu haben und dass jetzt auch nicht mehr viel kommt, ist darauf mit Händen zu greifen. „Das eine Leben“ (Sony Music Germany) trifft es aber genauso: „Achterbahngedanken foltern meinen Kopf. Krankenhausgestalten am lebensverlängernden Tropf. Ich will reisen, reisen!, die Zeit verrinnt wie Sand. Mit allen schönen Frauen schlafen, im Schlaraffenland. Und ’ne Krone will ich haben aus Gold oder sogar aus Dornen der Rose geflochten, das wäre wunderbar. Das Leben ist das Leben und nicht das Paradies.“ Etwas anderes hat auch nie jemand behauptet. Die Frage ist bloß, ob man diese Einsicht nicht schon früher haben kann.
Es wäre leicht verdientes Geld, sich über so etwas lustig zu machen – „das tut dem alten Mann doch weh!“, könnte man mit dem Hit sagen, der 1989 aus allen Radios kam und der von der vollständigen Besessenheit eben dieses nicht mehr jungen Mannes von einer gewissen „Sexy“ handelt, die ihn am ausgestreckten Arm . . . na, Sie wissen schon. Man könnte auch andere, erheblich wuchtigere Hauptlieder wie „Ich will raus hier“, das natürlich von Corona handelt, oder „Zeitgeist“, eine mit Videos routiniert unterlegte Attacke auf die falsche Vorbildlichkeit der Reichen, Mächtigen und Schönen, von den Kardashians bis hin zu Gerhard Schröder und sogar Putin, als den Opportunismus abtun, der eben zum Geschäft gehört, wenn man noch etwas verdienen will; Peinlichkeiten wie „Die Kraft in meinen Lenden zerfloss in meinen Händen“, für die sich jeder Dirty-old-man-Schriftsteller zu fein wäre, inbegriffen. Denn textlich ist es seit dem von der Platte „Geiler is’ schon“ (1983) markierten Ende der ja wirklich rotzfrechen Proletarierphase ein ausgemachtes Westernhagen-Problem, dass dem Willen zur Sinnstiftung oft eine Anfälligkeit zum Ungereimten, ja, Sinnwidrigen in die Quere kommt. Da sind die Tautologien (jetzt „Das Leben ist das Leben“, „Es geht immer nur so weit, wie es geht“) das geringere Übel. Dass er im Modus der Unverschämtheit immer noch am besten ist, hört man auch jetzt wieder.