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Lesen lernen in fünf Tagen? : Der Schulpartisan aus Weilmünster

Für manche ein Rätsel, für andere ein großes Spiel: Die Buchstaben, wie Wolfgang Heller sie Kindern nahebringt

Für manche ein Rätsel, für andere ein großes Spiel: Die Buchstaben, wie Wolfgang Heller sie Kindern nahebringt Bild: www.kinder-lernen-lesen.de

Im Eilverfahren: Ein Lehrer aus der hessischen Provinz will sich nicht damit abfinden, dass die Kinder bei uns schlechter lesen als anderswo in der Welt. Sein einwöchiger Lese-Crashkurs ist vor allem ein großes Spiel.

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          „Welches Tier beginnt mit einem Q?“ - fragt der Lehrer, und der Fünfjährige antwortet ganz selbstverständlich: „Die Kuh“. Es ist der zweite Tag eines ambitionierten Selbstversuchs mit Wolfgang Heller, und spätestens jetzt kommen den Eltern Zweifel. Ist die Mission des Grundschullehrers aus Weilmünster nicht doch etwas kühn? Denn wofür man sonst Monate braucht, und was manchem ein ganzes Leben lang nicht gelingt, nämlich lesen zu lernen, das will der Lehrer in wenigen Tagen vermitteln.

          Sandra Kegel
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton.

          Ein Visionär, unverkennbar, den Mann aus dem hinteren Taunus treibt das ganz Große um, eine förmliche Revolution, auch wenn er das selbst nicht so nennen würde. Und bislang ist es freilich auch nur eine Ein-Mann-Revolution im Verborgenen. Seit mehr als vierzig Jahren unterrichtet der Vierundsechzigjährige an der Grundschule von Weilmünster. Das ist ein heimeliger Ort mit strahlend weißen Häuschen zwischen den umliegenden Hügeln. Heller hat Weilmünster nur zum Studium in Gießen verlassen, dann kam er zurück. Im nächsten Jahr wird er pensioniert. Doch statt sich darauf zu freuen, brodelt es in ihm: Warum lernen die Kinder in diesem Land nicht so gut lesen wie anderswo in der Welt? Warum brauchen sie so lange, warum quälen sie sich so? Warum werden sie eher zu Legasthenikern erklärt, als dass man mit ihnen anständig übt? Damit, sagt er, kann er sich nicht abfinden. Und verfolgt seinen Plan mit sturer Leidenschaft.

          Dass es mit der Lesefähigkeit von Kindern in Deutschland nicht zum Besten steht, ist bekannt. Die große Schockwelle nach der Pisastudie 2000 liegt schon wieder einige Jahre zurück, die dreiundzwanzig Prozent der Fünfzehnjährigen hierzulande bescheinigte, zu der Risikogruppe der schwachen bis extrem schwachen Leser zu zählen. Dass ein Viertel der Jugendlichen mithin kaum oder gar nicht lesen kann, rief Politiker, Wissenschaftler, Lobbyisten auf den Plan. Es wurde geredet und gestritten, auf Konferenzen und in Plenarsälen, an den Zahlen änderte das kaum etwas. Im Gegenteil, sagt man etwa bei der „Stiftung Lesen“: Die Schere zwischen denen, die lesen können, und denjenigen, die es nicht können, gehe immer weiter auseinander.

          Gründe dafür kennen die Bildungsforscher viele. Vor allem den Söhnen aus sozial schwachen, bildungsarmen Familien mit hohem Medienkonsum fällt das Lesen schwer. Sie sind es auch, denen zu Hause nur selten vorgelesen wird, was für das Lesenlernen entscheidend ist. Doch Eltern wollen sich dafür oftmals nicht mehr die Zeit nehmen. Und in Kindergärten werden inzwischen zwar Gewaltprävention und Englischkurse angeboten, zum Buch hingegen greifen die Erzieherinnen viel seltener als vor fünfzehn oder zwanzig Jahren.

          Ein irritierender Befund: Produziert denn nicht der Buchmarkt so viele Bücher wie nie zuvor, für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche? Und trotzdem wird immer weniger gelesen? Die Deutschen finden lesen wichtig, sagen sie - tun es aber nicht. Von den Erwachsenen nimmt jeder Vierte nie ein Buch zu Hand, vier Millionen Deutsche gelten sogar als funktionale Analphabeten, die kaum mehr lesen und schreiben können als den eigenen Namen. Weil nur die wenigsten Alphabetisierungskurse besuchen, bleibt die Zahl seit Jahren konstant. Und bei den Vierzehn- bis Neunzehnjährigen gibt in Umfragen fast die Hälfte an, als Kind nie ein Buch geschenkt bekommen zu haben.

          Ist es da ein Wunder, wenn Kinder mit Lesen und Schreiben auf Kriegsfuß stehen? Wolfgang Heller will sich mit Erklärungsansätzen nicht abfinden und kämpft als Partisan im hessischen Outback gegen die Misere an. „Ich akzeptiere es nicht, wenn ein Kind nicht lesen kann“, sagt er. Er selbst habe in mehr als vierzig Jahren nicht einen Schüler nach der vierten Klasse gehen lassen, der nicht lesen und schreiben konnte.

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