Lebensmittel-Industrie : Ernährung bekommt jetzt mehr Gewicht
- -Aktualisiert am
Würden Sie diesem Mann ein Stück Schwein abkaufen? Hendrik Haase, Mitinhaber der Metzgerei Kumpel&Keule in der Markthalle neun in Kreuzberg. Bild: Olaf Deharde
Gegessen wird ja immer. Aber heute wollen die Verbraucher auch wissen, wo das Essen herkommt und was drin ist. Nun schlägt die Stunde der jungen Quereinsteiger. Der Kampf um den Konsumenten ist eröffnet.
Zwei junge Männer stehen an einem Tisch in der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg und schlürfen Austern. Sie tragen kurze Hosen, ausgeleierte T-Shirts und Turnschuhe. Es ist Streetfood Thursday, und durch die Hallen schieben sich der Hitze zum Trotz sehr viele, auffallend junge Menschen, die schwäbische Maultaschen genauso essen wie japanische Feinkost oder peruanische Pizza und eben Austern. Daran mag auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches sein, wäre da nicht diese Selbstverständlichkeit, mit der der Genuss, der bisweilen einen stolzen Preis hat, zelebriert wird. Trotz der Begeisterung fürs Essen, trotz Foodie-Culture und Food-Porn im Internet, trotz Burger-Läden, die abenteuerlich gestapelte „Edel“-Burger anbieten und so durchdesignt sind, als wollte man sie für ein Hochglanzmagazin fotografieren, vermutete man junge, austernessende Männer bislang eher auf Sylt als in Berlin-Kreuzberg.
Aber etwas ist eben anders. Etwas Grundlegendes. Und diese Entwicklung betrifft nicht nur jene kulinarisch Begeisterten, die jeden Donnerstag in die Markthalle Neun strömen und denen gern das Etikett „Hipster“ angeheftet wird. Dabei ist dieser Trend längst auf bestem Wege, zu einer Massenbewegung zu werden. Berlins Foodszene ist keine abgeschottete Gemeinschaft einiger engagierter Craft-Beer-Brauer, Metzger und Bäcker, die das Handwerk zwar hochhalten, ihre Relevanz aber jenseits der Stadtgrenzen einbüßen.
Sauerkrautstampfen bei Technomusik
Im Gegenteil – von Berlins Foodszene mit ihren zahlreichen Startups gehen wichtige Impulse aus. Ernährung gewinnt als soziales Statement, als Abgrenzungs- und Selbstvergewisserungsinstrument an Gewicht. Dass es für viele inzwischen dazugehört, ihre kulinarischen Erlebnisse per Smartphone festzuhalten und in sozialen Netzwerken zu dokumentieren, lässt sich auch darauf und nicht auf einen ausufernden Eskapismus zurückführen. Man ist eben, was man isst.
Hendrik Haase spricht im Moment viel über dieses Phänomen und die oftmals verzerrte Wahrnehmung. Der Blogger („Wurstsack“), Fotograf, Autor und Foodaktivist berät Konzerne, schreibt Bücher und erregt mit ungewöhnlichen Aktionen Aufsehen. Einmal zum Beispiel hat er fünfhundert Menschen zum Sauerkrautstampfen zusammengetrommelt, beschallt von Technomusik. Haase beschreibt sich selbst als „Foodie“, als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung, für die Essen ein wichtiger Ausdruck des Lebensstils ist und die ihm eine höhere Bedeutung beimisst, als man es in Deutschland gewohnt ist. „Unter den in den achtziger und neunziger Jahren Geborenen wird häufiger und länger gekocht als in allen Generationen zuvor“, sagt er.
Auch Schweineohren verkauft er problemlos
Tatsache ist, dass die oft als lethargisch, politisch desinteressiert und konsumorientiert abgestempelte Generation Y der Lebensmittelbranche zunehmend Kopfschmerzen bereitet. Ausgerechnet im Fastfoodland Amerika spürt die Industrie das von der Foodiekultur ausgelöste Beben besonders schmerzhaft. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Zeitschrift „Fortune“ einen Artikel über die tiefgreifenden Umwälzungen auf dem Lebensmittelmarkt unter der Überschrift: „Special Report: The war on big food“. Bebildert war die Geschichte mit einer Dose Tomatensuppe von Campbell, die in einer dickflüssigen, roten Flüssigkeit versinkt. Vier Milliarden Dollar haben die führenden Hersteller abgepackter Lebensmittel allein 2015 an Bio-Erzeugnisse und „Fresh“ verloren. Kunden, die einmal weg sind, kommen nicht wieder zurück.
Hendrik Haase verliert keine Kunden, er gewinnt neue hinzu. Seit Ende vergangenen Jahres betreibt der Anfangdreißiger, dessen Mails mit „kulinarische Grüße“ enden, gemeinsam mit einem Freund eine Metzgerei in der Markthalle Neun: „Kumpel & Keule“. Während die Fleischbranche zutiefst beunruhigt ist, weil sie den Verbraucher einfach nicht mehr versteht, während ein Unternehmen wie die Rügenwalder Mühle vegetarische Schnitzel, Nuggets, Frikadellen und Schinken Spicker ins Sortiment aufgenommen hat, feiert Haase das Fleisch. Seine verglaste Metzgerei ähnelt einer Showküche, es herrscht Transparenz statt Heimlichtuerei.
Haase hat keine Angst vor dem Verbraucher. „Jeder kann uns dabei zusehen, wie wir die Tiere zerlegen“, sagt er. Das ganze Tier, nicht nur einzelne Teile. Der Kunde verträgt das. Offenbar will er es sogar. Vom Schwein gehen selbst die Ohren problemlos über die Ladentheke. Das Geschäft läuft hervorragend, zehn Mann zählt das Team inzwischen. Als Haase und sein Partner die Metzgerei eröffneten, schrieb die „Süddeutsche“: „Wer hätte je geahnt, dass man über die Eröffnung einer Metzgerei einmal so ausholend berichten würde, als ginge es um die Bayreuther Tannhäuser-Premiere.“
Komplexitätsreduktion mit Gemüseeintopf
Haase verkauft nicht nur Fleisch. Er verkauft auch Geschichten: woher das Fleisch stammt, wie die Höfe geführt werden, wie die Bauern heißen und wie sie ihre Tiere halten, füttern und schlachten. Und warum zum Beispiel das Schwäbisch-Hällische Landschwein, ein Weideschwein, so phantastisch schmeckt. „Statt Gen-Soja aus Südamerika“, heißt es auf der Website von Kumpel & Keule, „fressen die Schweine Futter aus gentechnikfreier, regionaler Landwirtschaft und zahlreiche Schmankerl, die sie draußen finden.“ Kleegras zum Beispiel, das Obst alter Streuobstwiesen und im Herbst eiweißreiche Eicheln. Haase sagt: „Die Menschen wollen das Essen wieder verstehen.“ Pestizide, Antibiotika und Gentechnik sind ohnehin Reizwörter, besonders für seine Generation, die sich im Zeitalter der Verwirrung stiftenden Informationsüberflutung offenbar nach Komplexitätsreduktion sehnt.
Man könnte auch sagen, nach Momenten fern einem Bildschirm. Momente, in denen man keine WhatsApp-Nachrichten versendet, sich nicht durch irgendein virtuelles Museum klickt, einkauft oder Musik herunterlädt. Gemeinsam kochen, essen oder eben Sauerkraut stampfen sind solche Momente des Innehaltens. „Zu wissen, was zum Beispiel in einem Gemüseeintopf drin ist und woher all die Zutaten stammen, macht die Welt für einen Augenblick einfacher. Es bringt einfach Ruhe rein. Man sitzt zusammen am Tisch und isst“, sagt Haase. Dass der Gemüseeintopf fotografiert wird, bedeutet nicht, dass die „technikfreie“ Zeit nur ein halbherziges Bedürfnis ist. In dieses Bild passt übrigens auch der belächelte Boom von Malbüchern für Erwachsene.
Bio-Ecke im Supermarkt? Nur Ausdruck von Ratlosigkeit
Die Generation Y“, schreibt Eve Turow Paul, die Autorin des Buchs „A Taste of Generation Yum“, habe eine Share-Economy geschaffen, in der Autos, Häuser, Wohnungen und so weiter geteilt werden. „Wir nutzen all diese Möglichkeiten, um Geld zu sparen, nur wenn es ums Essen geht, tun wir das nicht. Wir scheuen uns davor, Häuser und Autos zu kaufen und geben stattdessen einen größeren Teil unseres Geldes für Essen und Reisen aus.“ Besitz sei out, Erlebnisse in.
Wenn Haase vor sogenannten Topentscheidern aus der Industrie spricht, versucht er ihnen klarzumachen, dass sie bei ihren Bemühungen, die Generation Y zu verstehen, einer Reihe gefährlicher Missverständnisse aufsitzen: „Die Beatles haben gerade angefangen zu spielen, und Sie machen immer noch Werbung für den neusten Jazz-Interpreten“, sagt er ihnen. Zwischen all den langen Supermarktregalen eine Bio-Ecke einzurichten, die Beleuchtung von Obst und Gemüse zu optimieren und ein bisschen über Essen und Genuss zu twittern ist Ausdruck dieser großen Ratlosigkeit. In einer nicht weit von der Markthalle Neun entfernten Metrofiliale, erzählt Haase, werde gerade eine gläserne Zerlegestation errichtet – gut möglich, dass „Kumpel & Keule“ als Vorbild diente. Auch so ein verzweifelter Versuch, die Generation Y als Kunde zu fassen zu kriegen beziehungsweise nicht ganz zu verlieren.
Die Warnungen werden lauter. Im Foodreport 2017 des ZukunftsInstituts schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler, sie sei überzeugt, dass wir uns künftig noch stärker über Ernährung definieren, als wir es ohnehin schon tun. Essen sei zum zentralen Thema der urbanen Alltagskultur geworden, das zu erobern sich gerade die jüngeren Generationen anschickten. „Branchenbeobachter sind davon überzeugt, dass die Foodbranche am Beginn der größten Transformation seit der grünen Revolution steht, auch wenn die Mehrheit der Akteure in Landwirtschaft, Industrie und Handel die Vorboten der (R)Evolution noch nicht wahrnehmen will oder kann.“ Die jungen Unternehmer, so Hanni Rützler, seien oft Quereinsteiger und näher dran an den gefühlten, nicht messbaren Bedürfnissen der Konsumenten. „Nicht zuletzt, weil sie selbst oft als Konsumenten Lücken beziehungsweise Schwächen des Systems erkannt haben, die sie mit ihren Produkten und Services kompensieren wollen.“ In den Augen der Lebensmittelindustrie sind Quereinsteiger wie Hendrik Haase die neuen Partisanen im Kampf um den Konsumenten.