Lebenskunst : Hundert Jahre Woodstock
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Vor hundert Jahren schon entdeckte Woodstock die Hippies oder, besser noch, wurde von ihnen entdeckt. Damals noch als Lebenskünstler bekannt, schlugen sich auch schon mit Kunsthandwerk durchs Leben.
Drei Tage Frieden und Musik versprach Woodstock im August 1969, und seitdem ist der Name des Ortes für immer und ewig mit einer halben Million entrückter Rockfans verbunden, die in Farmer Yasgurs schlammigem Wiesengrund sich suhlten und liebten, kiffend ein alternatives Leben entwarfen und dabei Janis Joplin und Jimi Hendrix, The Who und Jefferson Airplane lauschten.
Was sollte es da ausmachen, daß Woodstock gar nicht in Woodstock stattfand, sondern, auf mehr als intensiven Druck bereits im voraus verschreckter Gemeindevertreter, viele grüne Hügelketten weiter am Rande der gottverlassenen Ortschaft Bethel. Die Gemeinde Woodstock aber durfte sich fortan mit der Legende schmücken, die ihren Namen trägt. Und selbst die Einwohner von Bethel müssen zugeben, daß es dafür einen Grund gibt. Nein, er heißt nicht nur Bob Dylan. Vor hundert Jahren schon entdeckte Woodstock die Hippies oder, besser noch, wurde von ihnen entdeckt.
Parties ohne ländliche Betulichkeit
Hippies waren damals noch als Lebenskünstler bekannt, die sich allerdings auch mit Kunst oder zumindest Kunsthandwerk durchs Leben zu schlagen hatten. Ganz ohne Geld ging nun einmal die Chose nicht, und der finanzielle Katalysator des Unternehmens war der englische Textilfabrikant Ralph Radcliffe Whitehead, der 1903 mit seiner amerikanischen Gattin Jane Byrd McCall eine Künstlerkolonie gründete, die das Ehepaar, eng umschlungen bis in ihre Mittelnamen, Byrdcliffe nannte. Maler, Töpfer, Weber, Juweliere und vor allem Möbelschreiner sollten sich hier zusammentun und in kreativer Atmosphäre fern jeder industriellen Entfremdung ihr Selbst mit der Kunst in Einklang bringen, und zwar in einem auch ökonomisch ertragreichen Modell.
Natürlich ging die Sache schief. Der utopische Kunstsozialismus, wie ihn Whitehead sich aus den Lehren eines John Ruskin und William Morris zusammenschneiderte, scheiterte an der Meinungsvielfalt der Kommunarden. Viele verließen bald wieder Byrdcliffe, aber nicht Woodstock. In den lieblichen Hügeln der Catskills, die Taunus und Harz nicht unähnlich sehen, setzten sie auf eigene Faust ihr Alternativleben fort, und einer der ersten Abtrünnigen, der Schriftsteller Hervey White, eröffnete eine konkurrierende Künstlerkolonie, die mit ihren Musikfestivals Besucher auch aus dem fernen New York anzog. Diese Städter schätzten es, daß neben Musik manch eine Party geboten wurde, die nichts von ländlicher Betulichkeit wußte. Der Ruf von Woodstock als Nirwana, in dem der brave Bürger die Chance hat, seine Fesseln zumindest für ein paar angenehme Stunden abzustreifen, geht also nicht erst auf die Sixties und ihre Hippies und Rocker zurück.
Byrdcliffe lebt nun noch ein bißchen in der Woodstock Guild weiter, die zwei Dutzend der originalen Kommunenhäuschen, allesamt der so bodenständigen wie stilvollen Arts-and-Crafts-Bewegung zugetan, in ihrem Besitz hat und sie an Musiker, Künstler und Schriftsteller vermietet. Eva Hesse und Milton Avery haben dort Sommer verbracht, und auch ein gewisser Bob Dylan ist dann eines Tages aufgetaucht. Und lange geblieben. Allerdings schaffte er es erst 1994, fürs Woodstock Music Festival in seiner zweiten, verwässerten Auflage in die Saiten zu greifen. Vielleicht findet er jetzt auch noch Zeit, den unangepaßten Ahnen von Woodstock zum hundertsten Geburtstag zu gratulieren.