Lagebericht in 45 Punkten : Amerika, du hast es schlechter
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9 Der Supreme Court agiert zunehmend wie ein Kassationshof der französischen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Dort wurde alles, was demokratisch orientierte Interessen im Parlament durchsetzen konnten, mittels rechtserfinderischer Instrumente einfach wieder kassiert. So könnte es auch Obamas Gesundheitsreform ergehen.
10 Andere befürchten sogar ein graduelles Umkippen des ehemals ehrenwerten Supreme Court in eine „Supreme Junta“ lateinamerikanischen Stils. Unbegrenzte Wahlkampfspenden werden vom höchsten Gericht zu einer Form der freien Meinungsäußerung deklariert. Waffenbesitz gilt selbst in dichtbesiedelten städtischen Gebieten als Grundrecht.
11 Die Besetzung, mit welcher der Supreme Court durchgehend anti-modern, wie eine juristische Tea Party, operieren kann, beruht auf drei Quellen: erstens der Wahl von (auf absehbare Zeit überwiegend konservativen) Verfassungsrichtern auf Lebenszeit; zweitens auf der Möglichkeit zur freischwebenden Rechtsschöpfung, im Rahmen eines kasuistisch orientierten Rechtsdenkens; und drittens auf der ideologischen Vorgabe, sich am Geist der Gründerväter zu orientieren und idealiter Dinge, die damals als Sachverhalt so nicht existierten, als verfassungswidrig zu deklarieren.
12 Überhaupt ist die Judikative aufgrund des immer weiter um sich greifenden Prinzips der öffentlichen Richterwahl samt Wahlkampffinanzierung vornehmlich durch Industrieinteressen durchlöchert, wenn nicht in ihrer demokratischen Legitimität unterminiert.
13 Die Vereinigten Staaten waren einmal Weltspitze in Sachen Transparenz, etwa zur Vermeidung von Interessenskonflikten, verbunden mit der Pflicht, diese zu deklarieren. Das ist längst Historie geworden.
14 Nirgendwo wirkt sich dies schlimmer aus als im Kongress. Wenn man dort zur Vermeidung von Interessenskollisionen einfordern würde, dass sich Abgeordnete in Ausschüssen nicht mit Gesetzgebungsentwürfen befassen dürfen, die Interessen von Unternehmen und Verbänden berühren, von denen sie selbst Wahlkampfspenden erhalten haben, käme praktisch die gesamte gesetzgeberische Tätigkeit auf Bundesebene zu einem jähen Halt. Denn sie müssten sich ja eigentlich als befangen deklarieren.
15 Was die Wehleidigkeit amerikanischer Unternehmer angeht: Vermeintlich hartgesottene Kerle wie der ehemalige General-Electrics-Chef Jack Welch jammern fortlaufend, wie übel ihnen die Obama-Regierung mitspielt und wie sehr Amerika zur „Anti-Business-Landschaft“ geworden sei. Wenn dem so wäre, dürfte es in Europa keine Unternehmen geben, die im Markt erfolgreich sind, und die wehleidigen amerikanischen CEOs würden an der Spitze eines europäischen Konzerns gleich einen Herzinfarkt bekommen.
16 Warum jammern gutverdienende Amerikaner so sehr, wenn die Steuersätze für Spitzenverdiener (in der Kategorie oberhalb von 250 000 Dollar) aus Gründen der Haushaltskonsolidierung wieder auf das vorherige Maß zurückgeführt werden sollen? Wie sollen sich da Europäer fühlen, wenn etwa in Deutschland der Spitzensteuersatz für Alleinverdiener bereits bei 52 000 Euro greift? Nach amerikanischen Maßstäben müssten alle gutverdienenden Europäer massiv suizidgefährdet sein, jedenfalls aber vollkommen demotiviert.