Messe „Paris Photo“ : Vom Glück der visuellen Überforderung
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Doppelte Untersuchung am Stand der Galerie Thomas Zander: Tarrah Kraknak, „Master Rituals II: Weston’s Nudes“, 2020 – 2021, 18 Silbergelatineabzüge, Edition von 5 + 2, 23,8 mal 18.8 Zentimeter, Preis auf Anfrage. Bild: Galerie Thomas Zander / Tarrah Kraknak
Menschenmassen drängen sich durch die Korridore im Grand Palais Ephémère. Die Messe Paris Photo präsentiert unter regem Zuspruch Klassiker, vor allem aber zeitgenössische Werke noch kaum bekannter Fotografen.
Nimmt man die ungeschriebene Regel von Ausstellungsmachern zum Maßstab, wonach kein Mensch mehr als zweihundert Bilder betrachten kann, ohne die Konzentration zu verlieren, ist dieser Punkt auf der Paris Photo schon im ersten Gang nach dem vierten Stand erreicht. Dabei folgen noch mehr als hundertzwanzig weitere mit Tausenden von Fotografien vollgehängte Kojen im Grand Palais Ephémère. Und so könnte man streng genommen dankbar sein dafür, dass sich an den Nachmittagen solch ungeheure Menschenmassen durch die Korridore quetschen, dass bei vielen Galerien an ein Betrachten der Bilder kaum zu denken ist. Dann ist es, als scrollte man sich zu schnell durch Instagram. Und so wird diese Messe einen Moment lang zum vollkommenen Ausdruck unseres Lebens inmitten einer Bilderflut, der wir hilflos ausgeliefert sind.
Den Einfluss des hoffnungslos überfüllten Hauses auf das Geschäft beschreiben Galeristen unterschiedlich, insgesamt herrscht eine positiv verhaltene Stimmung. Dass manche Kojen schon am zweiten Tag ein verändertes Angebot präsentierten, hatte deshalb weniger mit Ausverkäufen zu tun als mit der Absicht, das Käuferinteresse zu erkunden. Das in der Mehrzahl junge Publikum scheint schwer einschätzbar. Unübersehbar ist die Erleichterung nach Zeiten der Lockdowns. Man müsste sich nicht wundern, wenn viele Besucher die Messe eher als Kunst- denn als Kaufhalle betrachteten, in der wie nirgendwo sonst auf der Welt die Bandbreite der Fotografie aufgeblättert wird. Die größten Menschentrauben bilden sich während der Signierstunden, von denen Verlage und Galerien mehr als hundert angekündigt haben. Unentwegt begegnet man deshalb auch in den Gängen der Prominenz der Fotokunst. Und es werden Preise verliehen, etwa der mit zwanzigtausend Euro dotierte Lewis Baltz Research Fund, der in diesem Jahr an Tarrah Krajnak ging, eine junge peruanisch-amerikanische Fotografin, die sich in ihrem noch schmalen Werk von Selbstinszenierungen mit den Akten Edward Westons auseinandergesetzt hat. Die nur fünfmal abgezogenen Serien von zwanzig Bildern konnte die Galerie Zander restlos an bedeutende Museen verkaufen.
Für Sammlungsleiter und Kuratoren ist die Paris Photo ein zentraler Termin. Kaum irgendwo treten die jüngsten Tendenzen des Mediums deutlicher hervor. Tarrah Krajnak ist dafür in doppelter Hinsicht ein Beispiel, indem sie ebenso den eigenen Körper wie einen Klassiker der Fotografie untersucht, um ihren eigenen Platz zu finden. Solcherlei Verortungen in Selbstporträts stellen auch die Inszenierungen der Ungarin Kincsö Bede dar, die für den überdies politisch aufgeladenen Generationenkonflikt in ihrem Land unheimliche Bildmetaphern gefunden hat: Da bluten Nasen, stecken Köpfe in folkloristisch bestickten Kissenbezügen, oder die Fotografin liegt mit verdrehtem Körper unter einem Stuhl (Tobe Gallery, ab 1600 Euro).
Schule des Sehens
Die Afrikanerin Lebohang Kganye fotografiert sich in den Kleidern und Posen ihrer Mutter und schiebt sich mittels Doppelbelichtungen geisterhaft über die Motive des Familienalbums, um Fragen an die Erinnerung nachzugehen und Themen wie Migration und Vertreibung aufzuarbeiten (Galerie Afronova, Johannesburg, 3800 bis 5000 Euro). Der polnische Mechaniker Tomasz Machcinski hat sich eines vermeintlichen Traumas wegen von 1966 an in 22 000 lasziv-erotischen Selbstporträts als Frau gekleidet und geschminkt. Jetzt findet die Präsentation von mehr als hundert Beispielen bei der Galerie Christian Berst – Art Brut im Rahmen der Gender-Debatten ihr Publikum. Angeblich waren schon am zweiten Tag die Hälfte der Bilder verkauft.
Wer die Paris Photo als Schule des Sehens begreift, findet zahlreiche Bezüge und Querverbindungen. Mit den Geschlechterrollen spielt nicht nur Man Ray in seinem Porträt des verkleideten Marcel Duchamp als „Rose Selavy“ (bei Howard Greenberg, 42 000 Dollar). Alle Gattungen sind auf der Messe abgedeckt, ebenfalls alle Epochen: von Trouvaillen aus den ersten Tagen der Fotografie bei Hans P. Kraus, etwa William Fox Talbots Bild der Büste des Patrochus von 1842 (150 000 Dollar), bis zu bedruckten Tellern von Juergen Teller bei Suzanne Tarasieve aus Paris, für die sich der Fotograf und seine Frau erst dieser Tage in signalfarbener Baustellenmontur inszenierten, als errichteten sie irgendetwas, womöglich ihr gemeinsames Leben (4000 Euro pro Teller bei einer Auflage von drei).
Zeitgenossen im Großformat
Dennoch kann von einer Nacherzählung der Geschichte der Fotografie nicht die Rede sein. Den Schwerpunkt bilden zeitgenössische Arbeiten noch kaum bekannter Fotografen, häufig im riesigen Format, das ihnen den Platz an der Wand garantiert, als gehörten sie zur Möblierung. Ikonen der modernen Klassiker zu Preisen im fünf- bis sechsstelligen Bereich wie André Kertesz, Robert Frank, Diane Arbus sowie Bernd und Hilla Becher verteilen sich auf wenige prominente Galerien, von denen einige wiederum regelrecht eigene Ausstellungen zusammengestellt haben: Karsten Greve etwa mit einer umfangreichen Sammlung von Schwarz-Weiß-Aufnahmen Herbert Lists. Gargosian zeigt großformatige Stillleben von Cy Twombly. Und die Galerie Paci aus Brescia präsentatiert Sandy Skoglunds surreale Inszenierungen aus den Achtzigern, in denen Rudel grellbunt lackierter Plastiktiere in graue Welten einfallen (Galerie Paci, Brescia).
Die theatralischste Präsentation hat sich Hamilton aus London einfallen lassen: eine Art labyrinthische Grabkammer mit schwarzen Wänden, niedriger Decke, gedämpftem Licht und Nischen für Aufnahmen von Irving Penn und Helmut Newton. Und im Zentrum im riesigen Format ein Porträt aus Richard Avedons Serie „In the American West“ – zu zwei Millionen Euro.