Fotograf Thomas Struth : Ein Bild von New York, bevor die Stadt erwacht
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Thomas Struth, West 74th Street, New York, Upper West 1978 Bild: Thomas Struth/Galerie Max Hetzler
Der Fotograf Thomas Struth blickt auf New York und der Architekturkritiker Michael Kimmelman erkundet in „The Intimate City“, was gerade mit der amerikanischen Stadt passiert.
Was man auf diesen Fotos sieht, sind die Straßen von Manhattan in einem leeren Moment, aufgenommen vielleicht an einem Sonntag oder früh am Morgen, bevor die Menschen und die Autos über die Brücken und durch die Tunnel in die Stadt fluten: die Stadt im Leerlauf, in Erwartung des Tages und der Massen; kein Mensch zu sehen, nur ein paar Autos, die wie Treibgut an den Straßenrand gespült wurden. Aufgenommen hat sie Thomas Struth 1978, gezeigt wurden sie erstmals 1987 in der Ausstellung „Unbewusste Orte“.
Die aktuelle Schau in der Berliner Galerie Max Hetzler (bis 14. April) greift diesen Titel wieder auf. Struth zeigt alltägliche, „unbewusste“ Orte, nichts Spektakuläres – aber gerade weil die Bilder die Leere so genau aufnehmen wie ein japanischer Meister des Satori, versteht man plötzlich, wie durch Gebäudetypen, Farben, Autos und Straßenbreiten die Atmosphäre einer Stadt entsteht und die Stimmung, die das Leben in ihr prägt.
Superdünne Luxuswohntürme
Struth fotografiert New York 1978 in einem interessanten Moment, in dem das verrußte, vormoderne, dreckige, klinkerrote New York des 19. Jahrhunderts mit seinem Kopfsteinpflaster, seinen überwucherten Brachen und Gleisen überrannt wird von der Kälte der neuen, gläsernen Geschäftshäuser und Wolkenkratzer. Was dort genau passiert ist, kann man auch nachlesen in einem der besten Bücher, die seit Langem über New York veröffentlicht wurden. Für „The Intimate City. Walking New York“ ging Michael Kimmelman, Architekturkritiker der „New York Times“, Pianist und Kunstexperte, während des Corona-Lockdowns mit Architekten, Historikern und Aktivisten spazieren.
Kimmelman ist Gründer von Headway, einer Initiative, die versucht, neue Formen des Journalismus hervorzubringen, um auf die aktuellen globalen Krisen zu reagieren, und gehört zu den wenigen Kritikern, die mit ihren Texten die Stadt tatsächlich verändert haben – zuletzt, als er die Stadt antrieb, den unterirdischen Horrorbahnhof Penn Station durch einen Bau zu ersetzen, an dem man gern in Manhattan ankommt. Für „The Intimate City“ geht Kimmelman zum Beispiel mit dem in Kalkutta geborenen Suketu Mehta durch Jackson Heights in Queens und spricht über die Bedeutung der Einwanderer hier und darüber, warum Mehta das Wort „Toleranz“ nicht mag. Er wandert mit Gästen den East River entlang, durchs East Village und zu den neuen, superdünnen Luxuswohntürmen von Midtown.
Früher wurden hier für Bürotürme alte Wohnhäuser abgerissen, heute werden die Bürotürme aus den Sechzigern abgerissen, um Platz für Luxusapartmenttürme zu machen. Das Wohnen hat das Arbeiten als lukrativste Daseinsform abgelöst. In den Spaziergängen entsteht nicht nur ein Porträt von New York und seiner vielfältigen Bewohner heute, sondern auch eines unserer Zeit, in der die Effekte von „Remote Work“ und Onlinehandel sichtbar werden. So wie Struths Fotos von 1978 einen entscheidenden Moment sichtbar machen, versteht man in Kimmelmans Buch, was gerade mit unseren Städten passiert – und mit der Gesellschaft, die sie baut.
Thomas Struth. Unbewusste Orte, in der Galerie Max Hetzler, Berlin, bis 14. April.