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: Warum sieht es im Ruhrgebiet so aus?

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Sie ist jedem Städtebewohner vertraut und allgegenwärtig, wurde bisher aber keiner fundierten Analyse für wert erachtet: die Alltagsarchitektur des Wiederaufbaus, die, weitgehend anonym und massenhaft, viele westdeutsche Städte prägt und gerade für das Ruhrgebiet zu einem bestimmenden (und unfreiwilligen) Imagefaktor geworden ist.

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          Sie ist jedem Städtebewohner vertraut und allgegenwärtig, wurde bisher aber keiner fundierten Analyse für wert erachtet: die Alltagsarchitektur des Wiederaufbaus, die, weitgehend anonym und massenhaft, viele westdeutsche Städte prägt und gerade für das Ruhrgebiet zu einem bestimmenden (und unfreiwilligen) Imagefaktor geworden ist. Denn hier traf diese Architektur auf besondere Voraussetzungen, die, wie Benedikt Boucsein historisch herleitet, mit der Industrialisierung gelegt wurden ("Graue Architektur". Bauen im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2010. 188 S., 218 Abb., br., 29,80 [Euro]).

          In einer Region wie dem Ruhrgebiet, in der sich das Bauen nach den Erfordernissen der Kohleförderung gerichtet hat, wurde die Stadt als Verfügungsmasse und das Haus als Maschine betrachtet. Diese Auffassung wirkt, vom ökonomischen Druck begünstigt und von bürgerlichen Traditionen kaum aufgehalten, bis heute fort: "Die baukulturelle Vorprägung aus der Industrialisierung schlug in der Nachkriegszeit voll durch", schreibt Boucsein in seiner Baugeschichte.

          Der Autor entnimmt den Begriff dafür der Umgangssprache: "Graue Architektur". Als Musterbeispiel für diese "Architektur ohne Eigenschaften" (Andreas Tönnesmann) dient ein unscheinbares, 1909 errichtetes Haus in Essen, Viehofer Straße 28, das für das Phänomen typisch ist, dessen Eigenschaften in sich aufnimmt und in Umbaumaßnahmen abbildet. Indem Boucsein die historischen Bedingungen aufzeigt, die additiven Entwurfsmethoden der handwerklich ausgebildeten Baumeister erläutert, städtebauliche Voraussetzungen und urbane Kontexte diskutiert, behördliche Zwänge und Vorgaben sowie die Rolle der privatwirtschaftlichen Akteure berücksichtigt, gelangt er zu einer differenzierten Bewertung der "Grauen Architektur" und bestimmt ihre Eigenschaften: Unaufgeregt und unauffällig, rationell und effizient, wenig individuell und preiswert, wird sie als "pragmatische Modernität" definiert.

          Ihr oberstes Gebot heißt Zweckmäßigkeit, und so tendiert sie zu einer Normierung, deren Gestaltungsanspruch mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt halten kann: "Zwar stellt sie, salopp formuliert, das Ergebnis der Drecksarbeit der Moderne dar, gerade deswegen aber kann die Graue Architektur als integraler Bestandteil dieser Moderne betrachtet werden."

          Stil oder Typus? Weder noch. Ungemein anpassungsfähig, erweist sich die "Graue Architektur" als "Modus", der auf gegebene Situationen reagiert und sich auf jede Bauaufgabe anwenden lässt. Auch der Niedergang der Industrie hat ihr Fortbestehen befördert, das heute mit einem enormen Sanierungsbedarf vor neue Herausforderungen stellt. Denn die Strukturkrise hat eine Revision des Wiederaufbaus, wie er in anderen Städten in Gang kam, ausgebremst und so ein Erscheinungsbild festigen geholfen, das eine "Permanenz des Unfertigen" vermittelt. So bringt die Darstellung den Leser auch der Antwort auf die Frage näher, die sich im Ruhrgebiet aufdrängt: Warum sieht es hier so aus?

          ANDREAS ROSSMANN

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