: Der Bilderberg
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Vor einigen Monaten erschien in einem kleinen Berliner Verlag ein Fotoband mit dem Titel "Komm, mein Mädchen, in die Berge". Zweiundvierzig Bilder, die ein Liebespaar zeigen, fotografiert vor wechselnden Bergkulissen über drei Jahrzehnte hinweg, von den frühen Fünfzigern bis in die frühen Achtziger.
Vor einigen Monaten erschien in einem kleinen Berliner Verlag ein Fotoband mit dem Titel "Komm, mein Mädchen, in die Berge". Zweiundvierzig Bilder, die ein Liebespaar zeigen, fotografiert vor wechselnden Bergkulissen über drei Jahrzehnte hinweg, von den frühen Fünfzigern bis in die frühen Achtziger. Man sieht zwei Menschen, die gemeinsam alt werden und von deren Liebe zueinander in all den Jahren nichts verlorengegangen scheint. Das Vorwort umfasst wenige Sätze und nennt zwei Initialen: D. und G. Sonst erfährt man nichts über die beiden, nur das, was man sieht.
Andrea Stultiens hat das Fotobuch gemacht. Sie ist vierunddreißig Jahre alt, klein und schmal, sie lebt in der holländischen Stadt Nijmegen. Ihr Büro ist in einem früheren Fabrikgebäude in der Nähe des Bahnhofs untergebracht, sie teilt es sich mit einem Künstler und einem Webdesigner. Sie fotografiert selbst, wobei sie darauf achtet, dass hinter ihren Fotos eine Geschichte steht und nicht nur Ästhetik. Sie arbeitet auch mit Fotografien, die sie auf Flohmärkten findet oder in Secondhandläden. Manchmal kommt beides zusammen, das Eigene und das Fremde, und dann entsteht etwas, was über die Fotos hinausweist. Das macht die Arbeit von Andrea Stultiens zu etwas Besonderem.
Vor etwa vier Jahren erzählte ihr eine Kollegin, sie habe von ihrer Schwester, der ein Geschäft für gebrauchte Möbel und Antiquitäten in Tilburg gehört, zahllose Dias erhalten. Die Aufnahmen zeigten meist langweilige Landschaften mit Bergen, auf manchen aber seien Menschen zu sehen. Ob sie Interesse daran habe. So lernte Andrea Stultiens D. und G. kennen.
Die Kollegin überließ ihr etwa dreitausend Dias in schweren Boxen, die jetzt gestapelt hinter ihrem Schreibtisch in einem Regal stehen. Auf vielen war gar nichts vermerkt, auf wenigen nur zwei Buchstaben, die aussahen wie ein D und ein G. Einige Rahmen waren von Rost überzogen, und es dauerte eine Weile, sie davon zu befreien. Andrea Stultiens hat sich jedes einzelne Bild angesehen, sie konnte nicht mehr von dem fremden Paar lassen."Ich spürte, dass die zwei Menschen besonders gewesen sein müssen, genauso wie ihre Liebe", sagt sie. "Ich hatte einen Schatz gehoben."
Sie entschied, ein Buch zu machen und dafür Dias auszuwählen, die D. und G. gemeinsam vor Bergpanoramen zeigen, alle anderen sortierte sie aus. Die Wahl fiel ihr schwer, es waren ja so viele. Nach wenigen Monaten waren D. und G. so etwas wie Freunde für Andrea Stultiens geworden; sie hatte das Gefühl, sie gekannt zu haben, so tief schaute sie hinein in dieses Leben. Der Frau fühlte sie sich besonders nahe, sie erinnerte sie an ihre Großmutter, an der alles rund und weich gewesen war. "Ein wundervoller Mensch", sagt sie.
Andrea Stultiens hat sich nicht ausgemalt, wie D. und G. gewesen sein könnten, wie sie sich eingerichtet hatten in ihrer Liebe und ihrem Leben, womit sie ihr Geld verdienten, welche Freunde sie hatten. Ihr genügten die Dias, weil sie ihr alles verrieten und gleichzeitig nichts. Sie wollte das Geheimnis bewahren, das die beiden umgab, sie wollte nicht mehr sehen, als sie sah. Deshalb hat sie keine Fragen gestellt oder versucht, ihre Geschichte zu recherchieren. Sie hatte Angst, dass die Wahrheit das Bild, welches sie entworfen hatte, zerstören könnte.