Documenta und Kunsthandel : Abseits des Wertesystems
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Soziale Kunst: „Slum Art Festival“ im kenianischen Lunga Lunga, organisiert vom Wajukuu Art Project Bild: Photo: Shabu Mwangi
Bevor Antisemitismus die Documenta 15 diskreditierte, sollte kollektives Handeln ihr Großthema werden. In der „Lumbung Gallery“ wird Kunsthandel zum Sozialprojekt.
Der Skandal um antisemitisches Bildvokabular überschattet die Documenta 15, die sich damit selbst diskreditiert. Auch einem wohlwollenden Publikum macht sie es schwer, sich auf die Impulse einzulassen, die einen anderen Blick ermöglichen sollten als jenen, der in vielen periodischen Großausstellungen in Europa bestens eingeübt ist. Es bleibt die Aufgabe, einen globalen Begriff zeitgenössischer Kunst zu bilden, der Hierarchien, Ignoranz und Geringschätzung korrigiert, ohne darüber die eigene, die westliche Erfahrung über Bord zu werfen. Ebenso gilt es, Einsichten zu erweitern, die die Documenta in früheren Ausgaben selbst eröffnet hat wie 2002 durch den Nigerianer Okwui Enwezor, den ersten aus Afrika stammenden künstlerischen Leiter der Kasseler Weltkunstausstellung. Bis auf Weiteres wird jedes Nachdenken über die kuratorischen und künstlerischen Ziele dieser Documenta vom Antisemitismus-Skandal durchkreuzt.
Ohne Galerien
Wenn wir es gleichwohl aus der Sicht des Kunstmarkts versuchen, zählt zu den bemerkenswerten Befunden, dass rund achtzig Prozent der Künstler dieser Documenta nicht von einer Galerie vertreten werden. Eine enorme Zahl für eine Großausstellung solcher Bedeutung, wird Gegenwartskunst doch per se – auch – in ökonomischen Größen verhandelt. Die Quote nennt Martin Heller, Kooperationspartner der Kasseler Weltkunstschau und Mitbetreiber der Berliner Verkaufsplattform „TheArtists.Net“, die Künstler ohne Galerievertretung bei Verkäufen unterstützt.
Von den rund 1500 Teilnehmern der Documenta bestreiten nur wenige ihren Unterhalt mit Kunst. Für die meisten gibt es auch keine Infrastruktur, die hierzulande den künstlerischen Werdegang vorzeichnet: eine Ausbildung an einer Akademie, Stipendien, erste Ausstellungen in Galerien und Kunstvereinen, Sammler, die vorstellig werden. Wer nichts verkauft, zählt weniger, gilt vielleicht sogar nur als Hobbykreativer. In Kassel trifft man kaum auf ein Hinweisschild mit der „Courtesy“ eines Händlers, der „freundlichen Genehmigung“, das Werk präsentieren zu dürfen. Man kann das Gezeigte folglich nicht in ein Wertesystem einfügen, in dem Galerien, Sammler, Institutionen Maßstäbe setzen. Das ist eine entlastende Erfahrung – wobei der Antisemitismus-Skandal auch diesen Gedanken durchkreuzt –, bedeutet aber nicht, dass die in Kassel ausgestellten Arbeiten unverkäuflich wären. Vielmehr versteht sich die Documenta 15 offen und offensiv als Ausstellung, aus der verkauft werden soll. Allerdings wird die Dringlichkeit, Kunst zu machen und Verkäufe zu generieren, anders bestimmt: Die Künstler greifen direkt in ihre Lebenswelt ein und verändern deren Umstände vor der eigenen Haustür. Dafür braucht es Geld.
Ein anderer Blick auf Kunst
Die Kollektive investieren es zum Beispiel in agrarökologische Maßnahmen in verlassenen Dörfern in Spanien, die sich die Madrider Gruppe Inland auf die Fahnen geschrieben hat, oder in einen Projektraum mit Holzwerkstatt in einem Slum namens Lunga Lunga in Nairobi, den das Wajukuu Art Project realisiert hat, dem mit der Umwandlung der Documenta-Halle in eine Wellblechhütte eine der eindrucksvollsten Arbeiten in Kassel gelungen ist. Oder sie unterstützen politische Gefangene in Kuba, für die sich das Kollektiv Instar, kurz für Instituto de Artivismo Hannah Arendt, um die Künstlerin Tania Bruguera starkmacht. Was auf der Documenta an Finanzmitteln erwirtschaftet wird, fließt größtenteils in soziale, politische Projekte. Das verändert auch den Blick auf die Kunst.