Kunst im Libanon : Ein Schatz wird gehoben
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Aref El Rayess zählte zu den wichtigsten Künstlern der Moderne im Libanon. Fast wäre sein Werk dem Verfall anheimgefallen. Gerettet ist es endlich umfassend ausgestellt – bald auch in Europa.
Als Aref El Rayess im Winter 2005 starb, wurde es still um ihn. Staub legte sich über Bilder, Skulpturen, Bücher und Pinsel. Wasser sickerte aus dem Souk oberhalb seines Ateliers in das Gewölbe, Ratten verendeten in den Koffern, die der libanesische Künstler zu Lebzeiten Dokumente gefüllt hatte. „Es war interessant und fürchterlich“, sagt Catherine David über ihren ersten Besuch in dem Ort Aley, der in den Hügeln oberhalb von Beirut liegt. Die französische Kunsthistorikerin war künstlerische Leiterin der Documenta X und Direktorin verschiedener Museen in Paris – und sie ist eine ausgewiesene Kennerin moderner und zeitgenössischer Kunst der arabischen Welt. Doch bevor sie im Atelier von Aref El Rayess Hunderte chaotisch gestapelter Gemälde entdeckte, hatte sie nur ein einziges Original von ihm zu Gesicht bekommen: Eine Art Palimpsest aus den sechziger Jahren, das sie an Sigmar Polke erinnerte. „So etwas hatte ich bis dahin in Beirut noch nicht gesehen.“
Seit acht Jahren beschäftigt sich Catherine David inzwischen mit dem Künstler, dessen Bedeutung für die arabische Moderne anerkannt, dessen Schaffen aber wenig erforscht ist. Erst jetzt ist ihm eine erste Retrospektive gewidmet, zu sehen in der Galerie Sfeir-Semler in Beirut, die den Nachlass von Aref El Rayess verwaltet. Die Galeristin Andrée Sfeir-Semler wird nur einen winzigen Teil des Werks verkaufen und den weitaus größeren auf Museumstour schicken, zunächst nach Sharjah und Valencia. Es hat lange gedauert, so weit zu kommen. Im Atelier von Aref El Rayess fanden sich Werke, die seit Ewigkeiten niemand in der Hand hatte. Während des Bürgerkrieges schlugen Querschläger ein und beschädigten Bilder. Wasser weichte Skulpturen aus Ton auf, die heute kaum noch zu bewegen sind. Und im Wohnhaus des Künstlers, das dem Atelier gegenüber am anderen Ende eines terrassierten Gartens liegt, schlummerten Fotos, Korrespondenzen, Tagebücher, Essays, Skizzenbücher sowie rund viertausend Bilder und Zeichnungen unter Staub und Spinnweben aus Jahrzehnten.
Catherine David begann, das Durcheinander zu ordnen. „Aber wir sind nicht die Getty Foundation“, ruft die Kunsthistorikerin. Weder gab es die Mittel noch die Expertise, um den Schatz zu heben. Die Tochter des Künsters, Hala El Rayess, hat vier Bilder verkauft, um Geld für ein paar Mitarbeiter aufzutreiben, die das frühere Wohnzimmer, dessen Wand ihr Vater mit einem abstrakten Fresko bemalt hatte, in einen Arbeitsplatz verwandelten. Von hier aus haben sie sich durch die Räume in zwei Stockwerken gegraben, die heute tatsächlich aussehen wie ein professionell geführtes Archiv. Das ist umso bemerkenswerter, als solche Archive nicht nur im Libanon, sondern in der gesamten arabischen Welt selten sind. Neben dem „Early Works Room“ und dem „Late Works Room“ mit Regalen voller Gemälde stehen Schubladenschränke mit Zeichnungen, die in spezielles Papier gehüllt sind, das importiert werden musste, weil es im Land nicht zu finden war. Vieles wurde digitalisiert. Wichtige, wenn auch bei weiten nicht alle Teile des Korpus sind gesichtet.
Aus all dem setzt sich das Bild eines Mannes zusammen, der 1928 in eine gut situierte drusische Familie hineingeboren wurde , die – wie es für viele Familien im Libanon typisch war und ist – ein Nomadenleben in der Diaspora führte. Von 1948 an pendelte sie für eine Dekade zwischen Frankreich und dem Senegal, wo Aref El Rayess eine erste Serie eindrucksvoller Porträts schuf, die nun in der von Catherine David weitgehend chronologisch gehängten Retrospektive mit 109 Werken zu sehen sind. Anfang der sechziger Jahre folgte eine prägende Zeit in Italien, von denen abstrakte Bilder in dunklem Impasto erzählen. Gemeinsam mit seinen Arbeiten aus der anschließenden Zeit in New York zeugen diese Gemälde von einem Künstler, der empfänglich für die Stile seiner Zeit war, sie aber nie kopierte, sondern in die eigene Handschriften übertrug. So auch in der „Flying Carpets“ genannten Serie, die mit fließendem Farbauftrag an die abstrakten amerikanischen Maler der Epoche erinnert.
Aref El Rayess war als Autodidakt in einer Weltgegend zu Hause, die fern der Zentren der Moderne lag. Er lebte in einer Stadt, deren Galerien während des Bürgerkriegs immer wieder schließen mussten, sodass er sein Werk selten öffentlich zeigen konnte. Zugleich aber scheint er die Freiheit genutzt zu haben, die damit verbunden sind, nicht für einen bestimmten Markt produzieren zu müssen. Er arbeitete in teils antagonistischen Stilen – figurativ und abstrakt, surrealistisch und expressionistisch. Manche Bilder erinnern an die mechanische Phase Fernand Légers, in dessen Atelier in Paris Aref El Rayess eine Weile lernte: etwa eine Reihe über den libanesischen Bürgerkrieg mit wenigen versehrten Menschen, die in den geometrisch geformten Trümmern der Stadt ausharren. Die Bilder markieren eine Hinwendung zum Politischen, die sich 1967 im Kontext des Sechs-Tage-Kriegs gegen Israel anbahnte.
Das interessanteste Werk aus diesem Jahr trägt den Titel „Le 5 Juin“ und zeigt in der Mitte den saudischen König Faisal, der von einer Menschenmasse niedergerissen wird. Für Aref El Rayess, schreibt die Kunsthistorikerin Natasha Gasparian, von der gerade eine der bisher wenigen wissenschaftlichen Arbeiten über den Künstler erschienen ist, war die Niederlage 1967 vor allem eine Niederlage der arabischen Eliten und ihrer Führer. Diese nahm Aref El Rayess ebenso kritisch ins Visier wie den israelischen Staat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Künstler ausgerechnet nach Saudi-Arabien zog, als im Libanon der Bürgerkrieg ausbrach. Dort half er bei der Gründung einer Kunstakademie und schuf im Auftrag der saudischen Regierung monumentale Skulpturen, die in Dschiddah und Riad ihre Plätze fanden. Vor allem aber wandte er sich vom Realismus, in dessen Nähe er in seiner politischen Kunst gerückt war, wieder ab und widmete sich Landschaftsmalerei an der Grenze zur Abstraktion. Seine Wüstenbilder sind zahlreich, spektakulär und manchmal von staubigen Felsen bestimmt, die an menschliche Körperteile erinnern.
Es sind diese stilistischen und thematischen Kehrtwenden, die das Werk von Aref El Rayess so komplex und seine Rolle neben anderen Künstlern der libanesischen Moderne wie Shaffic Abboud, Seta Manoukian, Etel Adnan und Saloua Raouda Choucair schwer greifbar machen. Dabei zeigt die Retrospektive nicht einmal alle Facetten seines Schaffens: Für sein gesamtes grafisches Werk fehlte schlicht der Platz, ebenso für die Gedichte, die er schrieb und die Lyrikbände anderer, die er illustrierte. Er entwarf Bühnenbilder für Auftritte der Sängerin Fairuz und der Brüdern Rahbani in den Tempeln von Baalbek. Mit einem ägyptischen Architekten designte er ein Gebäude in Beirut, das heute ein besetztes Haus ist. Er lehrte an der Universität und war Präsident einer Vereinigung von Malern und Bildhauern im Libanon, dessen politisches Geschehen er nach seiner Rückkehr aus Saudi-Arabien in Form großformatiger Collagen kommentierte, die das Ende seiner Schaffenszeit prägten und nun am Anfang seiner Retrospektive zu sehen sind.
Die Konterfeis libanesischer Politiker, allen voran von Kamal Joumblatt, dem Drusenführer, mit dem Aref el Rayess von Kindesbeinen an eine enge Freundschaft verband, treten mit ausgerissenen Zeitungsnachrichten, Fotos und Zeichnungen in einen Wettstreit um Aufmerksamkeit, den alle nur verlieren können. Das Chaos ist perfekt. Und hat von seiner Aktualität im Libanon nicht das Geringste eingebüßt.