Nazarener-Ausstellung in Mainz : Erkennt ihr euch nicht wieder?
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Im Mainzer Landesmuseum werden Gemälde und Skizzen der Nazarener gezeigt - holde Madonnen, entrückte Heilige, edle Ritter vor Goldgrund. Sie alle kommen uns erstaunlich nahe.
Wie haben sie das ausgehalten? Diese Madonnen zu malen, diese Jesusknaben und Engel im Stil von Dürer und Perugino - während ringsum die Dampfeisenbahnen schnauften und die mechanischen Webstühle ratterten, während die Kohlezechen aus dem Boden schossen und die ersten Schaufelraddampfer über den Rhein pflügten? Wo haben sie die Gesichtszüge dieser Heiligen hergenommen, dieser edlen Recken und Mönche, dieser Jungfrauen und Himmelsköniginnen - während Schopenhauer seine „Welt als Wille und Vorstellung“ veröffentlichte und Marx und Engels das „Kommunistische Manifest“, während Krupps Kanonen bei Sedan das französische Heer in Stücke schossen und Alfred Nobel in Geesthacht das Dynamit erfand?

Feuilletonkorrespondent in Berlin.
Das fragt man sich immer wieder vor den Bildern und Zeichnungen der Mainzer Ausstellung „Die Nazarener - vom Tiber an den Rhein“, vor diesen überirdisch schönen (und oft auch unirdisch flachen) Gesichtern und Körpern, die geradezu verzweifelt unmodern wirken. Dabei ist die Antwort klar: Die Nazarener und ihre romantischen Malerbrüder im Geiste reagierten auf ihre Zeit mit einer Kunst, die uns eigentlich nur allzu bekannt vorkommen muss.
Sehnsucht nach dem Wahren und Echten
Wohnen wir mit unseren Laptops und Flachbildschirmen etwa nicht in Altbauwohnungen, deren Entstehung noch ins späte Biedermeier hineinreicht? Bauen wir etwa nicht Barockfassaden für die Museen des 21. Jahrhunderts, pilgern wir nicht auf Jakobswegen, wenn uns die Sehnsucht nach dem Wahren und Echten, dem Sinn des Daseins quält? Denn darum geht es: Sehnsucht, nicht Verneinung; Sehnsucht nach etwas, das im Augenblick der Beschwörung schon verloren, aber als Schatten und Ahnung gerade noch greifbar ist.
Auch Eichendorff reiste ja schon mit dem Zug, aber das Posthorn klingt weiter durch seine Verse. Und Joseph Anton Settegast, der jüngste der in Mainz gezeigten Maler, hat vielleicht noch die ersten Glühlampen leuchten gesehen, denn er starb 1890, zehn Jahre nach Edisons Patentanmeldung und ein Jahr nach der Uraufführung von Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“, mit dem in Deutschland die ästhetische Moderne begann.
Am Anfang der Nazarenerbewegung stand Napoleon - oder besser, sein Gegenspieler Metternich, der an der Wiener Kunstakademie eine streng klassizistische, an antiken Formen und Proportionen geschulte Malerei durchsetzte. Gegen dieses Dogma erhoben sich der in Wien studierende Lübecker Patriziersohn Friedrich Overbeck und sein Freund Franz Pforr; 1810 zogen sie mit einigen Gesinnungsgenossen nach Rom, wo sie Tafelbilder und Fresken im Stil der Frührenaissance malten und wegen ihrer jesusmäßigen langen Haare bald als nazareni bekannt waren.
Ihre ersten Auftraggeber waren preußische Diplomaten und italienische Adlige, dann entdeckte sie der künftige bayerische König Ludwig I., und um 1830 besetzten die Nazarener bereits die Chefposten der wichtigsten deutschen Kunstakademien, mit Ausnahme Berlins, wo der romantische Klassizismus von Schadow und Schinkel seine Pfründe verteidigte. Aber gerade die Könige Preußens steckten immer wieder Geld in den Ankauf von Nazarenergemälden, während ihre Verwaltungsbeamten in der sogenannten Rheinprovinz (die unter anderem aus den ehemaligen Erzbistümern Köln und Trier gebildet worden war) sich mit ebendem erzkatholischen Milieu anlegten, aus dem diese Bilder erwachsen waren. Geistliche wurden verhaftet, Schulen geschlossen, und nach der Reichsgründung 1871 entlud sich die Spannung in jenem jahrelangen „Kulturkampf“, aus dem der rheinische Katholizismus und sein politischer Arm, die Zentrumspartei, gestärkt hervorgingen.