„Meine liebste Ausstellung“ : Bildhauer mit Axt und Beil
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Kunst der Steinzeit? Ach was, Kunst der Beinzeit: ein etwa 35.000 Jahre altes schwäbisches Mammut aus Mammutelfenbein. Bild: Picture-Alliance
Herzerwärmend: In den Jahren 2009 und 2010 präsentierte das Kunstgebäude Stuttgart die Ausstellung „Eiszeit – Kunst und Kultur“. Sie hat gezeigt, dass der Menschen zwischen Funktion und Ästhetik nicht zu trennen vermag.
In Ausstellungen durch Bewegung, Perspektivwechsel, Versenkung und Gespräch mit dem stummen Gegenüber in eine Resonanz zu kommen gehört zur Sonderform einer erweiterten Selbstbestimmung. In der Erinnerung entwickelt jede Schau ihr eigenes, unverwechselbares Gepräge. Wenn ich trotzdem eine Ausstellung in besonderer Weise hervorheben kann, dann die Eiszeit-Ausstellung von 2009/10 in Stuttgart, weil sie die Existenz von Ausstellungen schlechthin begründete.
Seit längerer Zeit war ich mit den Artefakten der Vor- und Frühgeschichte beschäftigt, weil die Kunstgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts dieses Gebiet als selbstverständlichen Bestandteil einer allgemeinen Geschichte des Bildes umfasst hatte. Franz Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte von 1842, in gewisser Weise die Urschrift einer Weltkunstgeschichte, bezog die steinzeitlichen Schöpfungen wie Stonehenge und Carnac ebenso ein wie die Ornamente Ozeaniens und die präkolumbischen Artefakte Amerikas.
Ein verfeinertes Bild
Angesichts der jüngeren Forschungen der frühen Archäologie schien mir die Frage, ob nicht die beiden Disziplinen abermals aufeinander zugehen sollten, geradezu ein Gebot der neuen Phänomene. Unter dieser Fragestellung, aber ohne bestimmte Erwartungen fuhr ich nach Stuttgart, um vom ersten Raum an überwältigt zu werden.
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Im Zentrum standen die teils bis weit über 40.000 Jahre alten plastischen Werke der Schwäbischen Alb. Der Doyen dieser Forschungen, Joachim Hahn, konnte diese Gebilde bereits in den achtziger Jahren analytisch zusammenfassen, aber durch die Funde der letzten Jahrzehnte, die wesentlich durch die Tübinger Forscher Nicholas J. Conard und Harald Floss mit ihren Teams erzielt wurden, hatte sich ein so verfeinertes Bild ergeben, dass die Ausstellung zu einer Neubestimmung nicht nur der Frühgeschichte des modernen Menschen, sondern auch der Vorläufer, von denen die Faustkeile zeugen, geriet.
Was den Menschen ausmacht
Es war atemraubend, etwa dem mindestens 32.000 Jahre alten, heute in Stuttgart bewahrten Löwenkopf aus der Vogelherd-Höhle gegenüberzutreten, der in seiner präzisen Gestaltung des Kopfes, den eingravierten Falten, dem angedeuteten Blick und allgemein der Mischung zwischen Nachahmung und Abstraktion wie ein Objekt der frühen Moderne wirkte. Nicht minder verblüfften die vom Ohr heruntergehenden und auch im Nacken sichtbaren X-Zeichen, die, ohne dass sie entschlüsselt werden konnten, darauf verwiesen, dass sie nicht etwa Körperpartien abstrahierten, sondern als zusätzliche Botschaft eingeritzt waren. Der Körper des Raubtieres war mit einer an Schrift gemahnenden Semantik verbunden.
Auch auf anderen Gebilden, etwa einem Mammut, zeigten sich derartige Einritzungen, wie sie kurz zuvor bei den rund doppelt so alten Artefakten der Blombos-Höhle in Südafrika gefunden worden waren. Hier tat sich leibhaftig eine Welt der plastischen und semantischen Gestaltung auf, welche die Bestimmung dessen, was den Menschen ausmacht, veränderte.
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