Eingesperrt als Performance : Kalter Lockdown in Manhattan
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Und hinter tausend Stäben eine andere Welt: Tehching Hsieh in freiwilliger Einzelhaft im Jahr 1978 Bild: Cheng Wei Kuong
Für seine „One Year Performances“ ließ sich Tehching Hsieh von 1978 an fünfmal für je ein Jahr einsperren. Ein Gespräch mit dem taiwanischen Künstler über seine Erlebnisse in dieser Zeit.
Was später einmal „Durational art“ genannt werden sollte – eine Kunst der Dauer –, hatte der junge Taiwaner in New York zunächst einmal eine Woche lang ausprobiert. Dann realisierte er seine denkwürdige Performance in vollem Umfang, nämlich über 365 Tage hinweg. Dafür legte er in einem „Statement“ einige wenige, allerdings einschneidende Regeln fest und ließ diese sogar offiziös von einem Notar beglaubigen: Am 30. September 1978 würde er, Sam Hsieh, sich in seinem Atelier in Manhattan in einer Zelle aus Gitterstäben mit den Maßen 335 mal 275 mal 245 Zentimeter wegschließen und sie bis zum 29. September 1979 nicht verlassen. Zwar werde er, wie er eigens notieren zu müssen glaubte, jeden Tag „Nahrung erhalten“, ansonsten aber weder lesen noch schreiben, Radio hören oder Fernsehen gucken und sich auch mit niemandem unterhalten – nicht mit seinem Freund Cheng Wei Kuong, der ihn täglich mit Essen und Kleidung versorgen (sowie seinen Abfall entsorgen) würde, nicht mit dem Publikum, für das er alle drei Wochen samstags, jeweils sechs Stunden, sein Studio öffnen würde.
Jene verschärften Bedingungen seiner freiwilligen Einzelhaft, erzählt uns der 1950 in Taipeh geborene Künstler im Zoom-Gespräch, sollten seine kühne, durchaus legendär zu nennende Performance „nicht komplizierter, sondern klarer machen“. Was aber hatte den illegalen Einwanderer – erst in den achtziger Jahren erhielt er eine „Green Card“ – überhaupt in eine Isolation getrieben, die in den Menschenrechten Folter genannt würde? Eine gewisse „soziale Distance ist Teil meiner künstlerischen Praxis, sie gehört zu meinem Leben“, antwortet der in Brooklyn lebende Tehching „Sam“ Hsieh lakonisch: Künstlerische Existenz sei ohne Abgeschiedenheit sowieso nicht zu haben. Seine Motive beschreibt Hsieh mit der Metapher der Schiffsschleuse. Er wollte Kunst und Leben damals auf dasselbe Niveau heben. „Beide kamen bei mir auf diese Weise auf ein Level.“ Mit der Performance habe er sich eine Form „für freies Denken“ geschaffen. Tagsüber übte der stoische Proband seines eigenen Experiments verschiedene Gewohnheiten ein, um die Zeit zu beleben: In einer Ecke des winzigen Verlieses ging er „spazieren, das war für mich draußen“, in einer anderen schaute er auf den Boden, um dort immer wieder neue Bilder zu entdecken, während er die Pritsche zu „meinem Zuhause“ erklärte.
Was lehrt uns seine Kunst?
Einfach und klar dokumentierte Hsieh seine insgesamt fünf Ein-Jahres-Performances, in denen er sich später etwa verpflichtete, ausschließlich draußen zu leben oder, im Vorgriff auf ein Dasein im wörtlichen Modus „24/7“, zu einer jeden vollen Stunde eine Lochkarte in eine Stechuhr zu stecken. Während seines Lockdowns ließ er sich jeden Tag von seinem Kompagnon in seiner Zelle fotografieren. So können noch heute Ausstellungen an seine frühen Werke aus den Jahren um 1980 erinnern wie bei der Biennale in Venedig (F.A.Z. vom 14. Juni 2017) oder in diesem Jahr, ab kommendem August, im Moskauer „Garage Museum of Contemporary Art“.