Hermann Nitsch wird 80 : Das Ausweiden der Lämmer
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Nitsch im Jahr 2001 in der Frankfurter Schirn. Bild: Picture-Alliance
Blut und Spiele: Der österreichische Künstler Hermann Nitsch wird achtzig Jahre alt. Exzessiv, infantil oder liberal – seine Kunst polarisiert.
Hermann Nitsch wurde in seiner Heimat als „barbarischer Blutkünstler“ attackiert und verdammt, aber auch mit Preisen gewürdigt und museal gefeiert. Marschierte einst eine Phalanx aus Tierschützern, Klerus, Rechtspolitikern und Boulevard gegen jede Austragung seines „Orgien-Mysterien-Theaters“ auf, so sind Nitschs rot-weiß-rote Kunstbacchanale heute fast schon kulturelles Aushängeschild einer vom Barock geprägten Nation.
Wo noch nie Blut auf die Leinwand geschüttet wurde, ist das freilich anders. Zuletzt gingen die Wogen im Vorjahr vor Nitschs 150. Aktion in Australien hoch. Vor dem MONA Museum im tasmanischen Hobart protestierten lautstark die Tierschützer, während drinnen den ans Kreuz gebundenen Darstellern Stierblut in den Mund gegossen wurde. Schlachtung fand keine statt, bildet doch nicht die Tötung, sondern das Ausweiden eines Rinderkadavers das Herzstück jenes Spektakels, dessen Grundzüge Nitsch bereits Ende der fünfziger Jahre erdacht hat.
Der Sohn einer armen Kriegswitwe arbeitete damals als Gebrauchsgrafiker im Technischen Museum und fertigte nebenbei Schüttbilder, ehe er in Günter Brus und Otto Muehl Mitstreiter für seinen aktionistischen Kunstbegriff fand. „Maler zerfleischt Lamm“ lautete der Titel zu einem Artikel, der im Jahr 1963 über einen „übelriechenden Exzess“ und Anzeigen der Exekutive berichtete; im Feuilleton wurde Nitschs erstes Abreaktionsspiel nicht als radikal, sondern als „infantil“ kritisiert.
Tierschändung oder kulturelle Liberalität?
Er strebe vor allem nach „absoluter Intensität“, betont der stets schwarz gekleidete Jubilar mit dem Patriarchenbart in den aktuellen Interviews. Seine von Georg Trakl und Friedrich Nietzsche ebenso wie von Richard Wagner geprägte Kunstreligion will das Existentiell-Verdrängte durch das kathartische Wühlen in Gedärmen offenbaren. Faszination und Abscheu mischen sich bei den Zuschauern dieser – übrigens nichtsexuellen – Synthese aus Opferritual, Konzert, Malaktion, Besäufnis und Selbsterfahrungstrip. So mancher der vorwiegend männlichen Spielteilnehmer sprach schon von einem „Geburtserlebnis“; das rote Getümmel, der Gestank und die Lärmmusik bleiben auch der einfachen Besucherin in bleibender Erinnerung. In der Informationsgesellschaft könnte Nitschs Kunst den Finger auf die sinnlichen Defizite legen, aber ihr litaneihafter Antimoderne-Gestus schwächt diese Relevanz.
Neben dem Zeremonienmeister Nitsch gibt es den unermüdlichen Produzenten von Tableaus und an die Messliturgie erinnernde Installationen, deren arbeitsteilige Herstellung auf seinem Schloss Prinzendorf der Künstler nie verborgen gehalten hat. Allerdings nahm es der zweimalige Documenta-Teilnehmer und Kunstprofessor in Frankfurt und Hamburg mit der Rechnungslegung in seiner „factory“ nicht so genau, was ab 2014 ein Verfahren und schließlich eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zur Folge hatte. Der seit jeher hohe Output des Künstlers dürfte auch der Grund für die vergleichsweise moderaten Preise sein. Die Topzuschläge im Wiener Auktionshaus Dorotheum liegen immer noch im sechsstelligen Bereich. Dass mittlerweile im niederösterreichischen Mistelbach und in Neapel eigene Nitsch-Museen existieren, hat zu einer vertieften Beschäftigung mit dem skandalisierten Künstler beigetragen.
Lange Zeit schmückten die rot-braunen Schüttbilder die Büros von sozialdemokratischen Ministern, aber unter der rechtskonservativen Regierung verschwanden diese Symbole für kulturelle Liberalität wieder in den Depots. Nitsch selbst dürfte das nicht stören, denn der Staatspreisträger sieht sich selbst als „Anarchisten“ und hat offiziell für Politik nur Verachtung übrig. Nach der Abbezahlung seiner Steuerschuld trägt den Wiener Dionysos noch ein großer Traum: Für das Jahr 2020 plant er eine Neuinszenierung seines „6-Tage-Spiels“ und damit ein letztes Aufgebot des großen blutigen Sinnentaumels.