Fotoausstellung in Berlin : Panzer zu Enten
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Eine Parodie auf Stuart Franklins Foto des „Tank Man“ vor dem Platz des Himmlischen Friedens. Berlin, 29. Mai bis 2. September 2021. Bild: c/o Berlin
Erst gab es Visitenkarten, dann kam die Postkarte, und heute gehen Milliarden Bilder täglich um die Welt: Eine Ausstellung im Fotografiezentrum c/o Berlin zeigt, wie das Senden von Bildgrüßen vom Rinnsal zur Flut wurde.
Konzeptausstellungen leiden gelegentlich unter einem Mangel an Anschaulichkeit. In der Eingangshalle des Fotografiezentrums c/o Berlin aber wird man mit Anschauung geradezu überflutet: Der gesamte Raum ist, von wenigen Durchgängen abgesehen, mit Haufen ausgedruckter Fotos im Standardformat bedeckt. Mit seiner Installation von 2004 wollte der niederländische Künstler Erik Kessels die Anzahl an Bildern sichtbar machen, die binnen eines Tages auf die Plattform des damals gerade gegründeten Fotosharing-Dienstes Flickr hochgeladen wurden. Es waren etwa dreihundertfünfzigtausend. Inzwischen laden allein die Kunden von Facebook jeden Tag das Tausendfache dieser Menge hoch. Ausgedruckt würden die Fotos sämtliche Räume von c/o Berlin im ehemaligen Amerikahaus bis unter die Decke füllen.
Aber die Voraussetzung der Facebook-Kommunikation besteht ja gerade darin, dass die Bilder keine räumliche Ausdehnung bekommen, dass sie virtuell und frei flottierend bleiben. Darin wiederum liegt ein Problem der Ausstellung „Send me an Image“. Sie will etwas festhalten und gestalten, das sich der Fixierung entzieht, weil es an keinen dreidimensionalen Bildträger mehr gebunden ist. Der Beginn der Entwicklung, die mit Visiten- und Postkarten begonnen hat und mit ausgedruckten Fotos weiterging, ist noch materiell greifbar, aber ihr vorläufiger End- und Höhepunkt verschließt sich in der Tiefe der Bildschirme.
Das erste digital verschickte Bild zeigte ein Neugeborenes
Dementsprechend behilft sich die Ausstellung mit künstlerischen Interventionen zum Thema, die im Fortgang durch die Räume immer abstrakter und flüchtiger wirken. Insofern zeichnet sie den Weg von der beschichteten Bildplatte in die Irrealität des Datenspeichers nach, den die Fotografie in den vergangenen zwei Jahrhunderten gegangen ist. Sie zeigt aber auch eine Qualität auf, die der fotografischen Abbildung von Anfang an eignete: Als technisches Erzeugnis war sie grundsätzlich auf Weitergabe und Reproduktion angelegt.
Nicht in der zeitlichen, aber in der entwicklungslogischen Mitte des Prozesses, den die Ausstellung dokumentiert, liegt eine Vitrine, in der ein alter Commodore-Laptop, eine Digitalkamera und ein Motorola-Smartphone zusammentreffen. Mit Hilfe der drei Geräte gelang es dem IT-Unternehmer Philippe Kahn am 11. Juni 1997, zum ersten Mal ein Foto, eine Aufnahme seiner neugeborenen Tochter, per Internet zu verschicken. Fünfundzwanzig Jahre später reisen Bilder täglich milliardenfach um die Welt.
Eine Installation wie Marc Lees „Corona TV Bot“, in der Nachrichten aus Fernsehprogrammen und sozialen Netzwerken zur Pandemie zu einer virtuellen Live-Sendung gepuzzelt werden, erwischt nur einen Nebenarm dieses digitalen Stroms. Kompakter und schlüssiger erscheint ein Ansatz wie der von Tomas van Houtryve, der anhand von Instagram-Fotos von Bürgerkriegsflüchtlingen des Jahres 2015 deren Fluchtstationen rekonstruierte und mit eigenen Aufnahmen zu einer Landkarte der Migrationswelle zusammensetzte. Vor dem Hintergrund der Orte, die van Houtryve gefilmt hat, erscheinen die Instagram-Posts plötzlich nicht mehr beliebig, sondern als Teil einer individuellen Geschichte: Sie berichten von Schicksalen.
Ein solches Schicksal, von dem man gern mehr wüsste, hat auch der „tank man“ erlitten, jener einsame chinesische Demonstrant, der am 4. Juni 1989 zu Beginn des Massakers auf dem Tiananmen-Platz mit zwei Einkaufstüten in der Hand eine Panzerkolonne der Armee aufhielt. Das Bild, das der amerikanische Fotograf Stuart Franklin an jenem Tag aufnahm, ist seither in zahllosen Verfremdungen im Internet in Umlauf gebracht worden, nicht zuletzt, um die chinesische Zensur zu umgehen, die das Foto auf den Index gesetzt hat. Auf einem dieser Memes, die zwischen Parodie und Kommentar schwanken, sind die vier vordersten Panzer durch überdimensionale Badeenten ersetzt. Das c/o Berlin hat dieses Motiv nachgebaut und in Form von drei aufblasbaren Enten aus Gummi vor seinen Eingang gesetzt. Abgesehen von der fehlenden vierten, ist auch die Idee selbst eine Ente. Der Nachbau macht aus der digitalen Pointe einen schwerfälligen Straßenwitz. Das hat selbst die humorlose Hauptstadt nicht verdient.
Nicht ohne Nostalgie betrachtet man nach den Studioporträts, Sammelbildchen, Briefmarken und Fotoalben im ersten Teil der Ausstellung die Postkarten, die der japanische Konzeptkünstler On Kawara im Jahr 1976 täglich an seinen Schweizer Galeristen geschickt hat. Jede der Karten enthält außer dem Datum und der Adresse des Künstlers nur eine weitere Information: den Zeitpunkt, an dem Kawara aufgestanden ist. Die wahre Mitteilung steckt auf der Rückseite, in den Bildern aus Venedig, New York und Berlin, die zum Teil Gebäude zeigen, die es heute schon nicht mehr gibt. Dasselbe könnte für die Postkarte als Bildmedium gelten, wenn der technologische Fortschritt wirklich so unaufhaltsam wäre, wie es sich viele wünschen. Doch es gibt die bunten Karten immer noch, und man findet sie gern im eigenen, heillos veralteten Briefkasten. Der digitale Bilderstrom fließt immer schneller, aber an seinen Rändern haben sich Buchten gebildet, in denen man sich von der Irrealität erholen kann.