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Fotografie der Schattenseite : Was wissen wir schon von der Welt?

Ausweitung der Kampfzonen, Übungen in Mitleid und Furcht: Eine Hamburger Fotoausstellung dokumentiert das Elend des Lebens und des Sterbens. Nichts für Kinder oder zarte Gemüter.

          7 Min.

          Es gibt Fotografien, die muss man nicht aushalten, sondern allenfalls aushalten wollen. Fotografien, auf denen Dinge und Welten zu sehen sind, die den meisten nicht einmal vom Hörensagen bekannt sind. Es ist, als legten diese Bilder dem Betrachter schwer die Hand auf die Schulter und stießen ihn dann umstandslos tief hinein in die Hölle, und während er versucht, aufzustehen und seine Glieder und Sinne zu ordnen, lachen sie ihm höhnisch ins Gesicht und brüllen ihm ins Ohr: Jetzt sieh mal zu, wie du hier wieder rauskommst.

          Freddy Langer
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.

          Den Schattenseiten der Welt widmen sich Fotografen, seit gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Kameras kleiner, die Technik einfacher und die Belichtungszeiten kürzer geworden sind. Zunächst geschah das mit wissenschaftlichem Anspruch, wenn etwa die Insassen psychiatrischer Kliniken porträtiert wurden, teils entspannt, teils während schwer zu ertragender Experimente. Ein wenig später waren Fotografen von sozialreformerischem Impetus getrieben und dokumentierten die erbärmlichen Lebensverhältnisse in Slums, in der Hoffnung, dass sich durch ihre aufklärenden Bilder etwas an der Situation ändere.

          Exponate mit verstörendem Inhalt

          Doch dauerte es nicht allzu lang, und es schlug sich die Sensationsgier ihren Weg in jenes Milieu gesellschaftlicher Randbezirke, in dem Menschen versacken und zwischen Drogenmissbrauch, Prostitution und Kriminalität buchstäblich verrotten. Fortan wandten sich die Bilder an ein Publikum, das sich vom Betrachten der Aufnahmen vor allem einen zarten Schauder erhoffte.

          Brassaï (eigentlich Gyula Halász) streifte als Flaneur durchs nächtliche Paris – und romantisierte für einen Bildband, den man neutral verpackt bestellen konnte, die Welt der Kleinkriminellen. Arthur Fellig hingegen, genannt Weegee, fuhr nachts mit dem Wagen eilig der New Yorker Polizei hinterher und blitzte mit bitterem Sarkasmus für die Boulevardpresse den Leichen von Schießereien oder den Opfern von Großbränden ins Gesicht. Das war nicht immer leichte Kost. Aber man müsste schon sehr naiv sein, um zu glauben, dass die Kamera ebensolchen Fotografen gleichsam als Schutzschild gegenüber einer brutalen Wirklichkeit diente. Sie wurde vielmehr zur Brechstange, mit der sich Bildreporter fortan den Zugang überallhin aufhebelten, fast so, als wäre das ihre Pflicht. Die Vokabel „tabu“ wurde kurzerhand von der Ethikliste der Fotografen gestrichen und ersetzt durch den dehnbaren Begriff der „Verantwortung“, untermauert durch die Parole, wonach man die Augen vor keinem Aspekt des Lebens verschließen dürfe. Darf man das wirklich nicht?

          In den Hamburger Deichtorhallen ergänzen sich jetzt die Einzelausstellungen dreier Fotografen zum Panoptikum einer Anderswelt, deren Zentrum im New York der siebziger Jahre liegt, deren Ausformungen sich aber auch in Moskau oder an der texanisch-mexikanischen Grenze mit Bildbeispielen wiederfinden. Mal geht es dabei fast feierlich um das künstlerische Potential von Subkulturen, mal mit radikalen Darstellungen um den Erfindungsgeist von Minderheiten bei ihren sexuellen Praktiken. Das entbehrt nicht einer gewissen Drastik. Und nicht alles, was man zu sehen bekommt, will man unbedingt so genau wissen. Aus gutem Grund darf die Bilderschau von Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nur in Begleitung von Erwachsenen besucht werden, und vor einem kleinen Kabinett warnt – ausgerechnet dort, wo ausnahmsweise ein besonderer Friede über den Motiven liegt – zusätzlich eine Tafel vor „Exponaten mit verstörendem Inhalt“. Was dann zu sehen ist, sind nackte Leichen auf dem Seziertisch der Pathologie. Das also, was längst jeden Sonntag dem „Tatort“ als Bebilderung für längere Gespräche über Eheprobleme oder Vorlieben für bestimmte Weine dient.

          Die Mythen der Unterwelt

          Verstörend sind deshalb viel weniger die Fotografien der Toten, denen Rechtsmediziner nach der Obduktion den aufgeschlitzten Leib mit dickem Zwirn und wulstigen Nähten wieder zusammengeschnürt haben. Verstörend ist die Bemerkung des Fotografen Jeffrey Silverthorne, dass ihm damals, als er diese Fotos machte, von einer Prostituierten eine Leiche jenseits des staatlichen Leichenschauhauses angeboten wurde. Für fünfzig Dollar, versprach sie, würde ihm ihr Zuhälter einen Penner umbringen. Damit ist das Milieu, in dem er sich bewegte, treffend skizziert: Bordelle und Gefängnisse. Sein Erweckungserlebnis als Fotograf allerdings hatte er an einem Treffpunkt von Transvestiten, die sich nicht scheuten, ihm ihre Körper zu enthüllen. Und eine Zeitlang hat er sich den Handgriffen auf einem Schlachthof gewidmet, womöglich, damit jeder verstehe, worum es ihm geht: um die Sehnsucht nach dem Leben und die Frage nach dem Tod.

          Jeffrey Silverthorne berichtet aus einer düsteren Welt, in der Mädchen in „Massagesalons“ tagelang an Betten gefesselt werden und sich die Kunden bei einem Preis von fünf Dollar die Klinke in die Hand geben. Und in der sich junge Frauen mit Prostitution das Geld für ein Methadonprogramm verdienen wollen, um von der Heroinsucht loszukommen. Niemand wird ernsthaft glauben, dass das gutgehen kann. Und wenn sich Silverthorne in einer Serie mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike auseinandersetzt, könnte man fast unterstellen, er erzähle von sich selbst, wie er vergebens versucht, die Menschen, mit denen er es zu tun hat, aus der Unterwelt zu retten.

          Die Weiterreichung von Erkenntnissen

          Und doch ist am Ende nichts so schockierend in Silverthornes OEuvre wie die Serie banal abfotografierter Hilferufe, die an Hausfassaden, Lampenpfosten und Schaufensterscheiben kleben und mit denen Eltern ihre vermissten Kinder suchen oder Männer ihre Ehefrauen. Nicht erst im Gesamtzusammenhang seines Werks wirken sie wie Wegweiser ins Grauen. In der Hamburger Ausstellung allerdings hat man auf diese streng dokumentarischen Fotografien zugunsten von Silverthornes künstlerischer Verfremdungen verzichtet. Darin rettet sich der Fotograf immer wieder in Mehrfachbelichtungen und Unschärfen. So findet er Bildmetaphern für sein Grübeln über die Unerträglichkeit der ausweglosen Situationen.

          Dass man sich durch die Kunst für Dinge und Geschehnisse begeistern lässt, von denen man sich unter anderen Umständen eher abwendet, ist keine neue Erkenntnis. Die Beispiele reichen von George Grosz und Otto Dix bis zu Francis Bacon. Und es gehört nicht zuletzt zu den Aufgaben des Künstlers, dem Betrachter gleichsam als Stellvertreter Erfahrungen zu vermitteln, die er selbst nicht machen kann oder möchte. Seine Erkenntnisse mit zurückzubringen aus fremden, mitunter verbotenen Zonen. Und dann sagt der Connoisseur kopfnickend: Ja, ja, so sind sie, die Kreise der Bohème.

          Ken Schles Chronik einer Bewegung

          Ken Schles lebte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, als New York kurz vor dem finanziellen Bankrott stand, in solch einem Umfeld, der Lower Eastside. Ein Stipendium hatte ihn an die Kunstschule Cooper Union nahe der Bowery gebracht, dem Armenviertel der Stadt. Im Rinnstein lagen Obdachlose, Rauschgiftsüchtige hausten in aufgebrochenen Wohnungen, Drogendealer lieferten sich auf den Straßen Schießereien, und Immobilienbesitzer zündeten kurzerhand ihre Häuser an, um die Versicherungsprämien zu kassieren, statt sich mit den Hausbesetzern herumzuplagen. Stets brannte irgendwo ein Haus, schreibt Schles. Dann strömten die Massen herbei und schauten zu wie bei einem Fest. Die Feuerwehr kam meistens zu spät. Die Polizei machte ohnedies einen weiten Bogen um den Stadtteil. Wer hier lebte, nagelte seine Fenster aus Angst vor einbrechenden Junkies zu.

          Und doch war dies der Nährboden für eine neue Kunst, eine Subkultur, die im Punk ihre neue Musik und mit den Möglichkeiten der Graffiti ihre neuen Bildlösungen fand. In Kellern wurden Theaterstücke inszeniert, in Badezimmern eröffneten kleine Galerien, die bald reiche Sammler anlockten, im Club CBGB’s nahmen die Karrieren von Blondie, Patti Smith und den Talking Heads ihren Anfang. Autoren wie Allen Ginsberg waren hier zu Hause und lasen abends ihre Gedichte vor.

          Und Schles war mittendrin, die Kamera stets bei sich, um sein persönliches Bildertagebuch vom rohen, rauhen, ganz und gar aufs Elementare konzentrierten Alltag im East Village zu führen. Als sich die etablierte Szene für die Gegend zu interessieren begann und erste Spuren einer Gentrifizierung unübersehbar waren, näherte sich dieses Kapitel der Stadtgeschichte ihrem Ende. Und da addierten sich die Bilder von Schles plötzlich zu so etwas wie der Chronik einer Bewegung.

          Es sind körnige, unscharfe, tiefschwarze Abzüge, die Schles anfangs unter primitivsten Bedingungen in seiner Küche vergrößert hat und später zu den Serien und Büchern „Invisible City“ und „Night Walk“ zusammenstellte – Bilder von ungeheurer Wucht, intim und direkt, mit kaputten Typen, die kaum noch die Augen aufbekommen, und kaputten Wohnungen voller Müll und demolierter Möbel, weniger abstoßend als erschreckend und nicht ohne Kritik dort, wo Reichtum und Schickeria in Anzug und Krawatte oder Abendkleid und Brillantohrringen für ihre Vergnügungen in das Milieu der Bars und Clubs einbrechen. Dann wird die Lust am Rausch zur Ware und das Leben außer Kontrolle zu so etwas wie einer Touristenattraktion.

          Dort, wo Schles aufgehört hat zu fotografieren, packt Miron Zownir die Kamera überhaupt erst aus. Auf seinen New-York-Bildern aus derselben Zeit geht der exzessiv gefeierte Lebensübermut umweglos in Krawall, Perversionen und Katerstimmung über. Die sexuelle Befreiung erlebte gerade noch einen Höhepunkt, da legte sich schon als gespenstischer Schleier die Aids-Epidemie über die Treffpunkte der Schwulen, etwa die eingestürzten Lagerhallen im Hafen von Manhattan.

          Wie Szenen eines Albtraums wirken manche Aufnahmen, wenn nackte Männer gruppenweise übereinander herfallen und ihre Geschlechtswerkzeuge freudig vor der Kamera ausfahren; wenn halbnackte Obdachlose ohnmächtig oder tot im Rinnstein liegen; wenn die Prostituierten vom Times Square sich in aufreizenden Posen andienen oder sich Künstler in fragwürdigen Performances inmitten des Verkehrs den nackten Leib verschnüren oder an ein Kreuz binden. Das alles beobachtet Miron Zownir nie aus sicherer Distanz, er erlebt es hautnah, so dicht am Motiv, dass man fast schon eine Komplizenschaft unterstellen muss und man sich gut vorstellen kann, dass er etliche Szenen womöglich erst durch seine Kamera provoziert hat. So freilich konnten Bilder entstehen, die dem Betrachter Faustschläge ins Gesicht und in die Magengrube verpassen.

          Miron Zownirs schrille Fotografien dringen wie ein Überfall in ein sicher geglaubtes Leben ein. Grausame Motive von zerstörten Leben. Viele Aufnahmen macht allein die historische Distanz erträglich. Zu glauben, dass der Schock, den derlei Bilder bewirken, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Entgleisungen führe, ist freilich so naiv wie die Hoffnung, mit Kriegsfotografien den Frieden zu sichern. Tatsächlich aber handelt es sich auch hier um Aufnahmen aus Kampfzonen im weiteren Sinn. Es entsteht eine intime Nähe zum Tod, doch folgt daraus keine Katharsis. Was bleibt, ist Verstörung. Das liegt am Medium der dokumentarischen Fotografie, ihrer Authentizität, die nichts verschönt, aber auch kein vorschnelles Mitgefühl provoziert. Und es liegt daran, dass hier etwas Unfassbares gezeigt wird, wovor Worte sich in die Banalität verlieren.

          Dass der Appetit auf Bilder, auf denen unter Schmerzen leidende Leiber zu sehen sind, fast so stark sei wie das Verlangen nach Bildern nackter Leiber, hat in einem ihrer Aufsätze Susan Sonntag angesichts von Motiven der klassischen Antike und der christlichen Ikonographie geargwöhnt. Bei Zownir kommt beides zusammen: Nacktheit und Leid. Und auch hier könnte der Betrachter sich, wie Susan Sonntag es anbot, Befriedigung verschaffen, indem er hinschaut, ohne zurückzuschaudern – oder, im Gegenteil, gerade im Gefühl des Zurückschauderns. Am Ende verlässt man die Ausstellung verstört, erschüttert und beschämt. Ein eher seltenes Gefühl nach einem Museumsbesuch.

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