„Urknall der Kunst“ im Museum : Was Klee und Picasso von der Urgeschichte lernten
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Die Essenz des Tieres in goldschirmmerder Wasserfarbe: Joseph Beuys’ Aquarell „Hirsch“ von 1956 Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Picassos Stiere, Mirós Krakelmännchen, Klees Schildkröten – alle stammen sie aus der Steinzeit: Das Hessische Landesmuseum Darmstadt zeigt den „Urknall der Kunst“.
Für den Beginn der Moderne in der Kunst kommen drei Gründungsdaten in Frage, die sich wundersamerweise nicht ins Gehege kommen: 1907, 1937 oder um 37.000 vor Christus. Alle drei aber gehen von der Kunst der Urzeit aus. Bei Picassos im Jahr 1907 vollendeten und ausgestellten „Demoiselles d’Avignon“ mit ihren wie geschnitzten Gesichtslarven und in Linien aufgelösten Körpern war immer bekannt, dass sie ihren Ursprung in vom Maler begeistert gesammelten afrikanischen Masken hatten, die ihre Vorläufer wiederum in steinzeitalten Stilisierungen des menschlichen Gesichts und Körpers haben.
Der Direktor jenes Museum of Modern Art in New York, in dem Picassos Urzeit-„Demoiselles“ heute hängen, der legendäre Alfred Barr, musste dann 1937 in seiner epochalen Ausstellung „Prehistoric Rock Pictures in Europe and Africa“ „nur noch“ die letzten dreißig Jahre Kunstproduktion mit jener der vergangenen dreißigtausend zusammenbringen: Er stellte die vorzeitlichen Bilder vor allem des afrikanischen Kontinents und Europas neben die Gemälde moderner und surrealistischer Künstler, und siehe da – die vermeintliche Nullsetzung der Moderne durch Befreiung von jeglicher Tradition war gar keine – vielmehr erschien das Zurück zu den Ursprüngen menschlichen Kunstschaffens als massive Rückbesinnung auf die Bildwelten der Altvorderen zehntausende Jahre vor der Zeitrechnung.
Der Big Bang der modernen Kunst fand vor 40.000 Jahren statt
All diese drei Gründungslegenden werden nun im Hessischen Landesmuseum Darmstadt präsentiert. Die Universalsammlung von der Vorvergangenheit bis zum sogenannten Beuys-Block übertreibt daher nicht, wenn sie ihre große Ausstellung mit 43 Meisterwerken der Moderne von Paul Klee über Jean Arp und von Pablo Picasso bis Willi Baumeister mit der astronomisch gedehnten Hyper-Chronologie „Urknall der Kunst“ betitelt, denn tatsächlich stammt die moderne Malerei zu wesentlichen Teilen aus diesem.Wobei das verblüffende ist, dass selbst die ältesten bislang gefundenen Artefakte wie der aus Elfenbein geschnitzte Löwenmensch aus der Weltkulturerbe-Höhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb wie auch das handtellergroße Mammut aus der dortigen Vogelherdhöhle mit in den Körper eingravierter Binnenzeichnung und subtil angedeuteter Bewegung derart kunstvoll sind, dass sie eigentlich ihrerseits chronologisch Vorgänger haben müssten, auf denen sie aufbauen.
Wie aber kamen die Künstler der MoMA-Ausstellung 1937 an diese Vorbilder, wenn sie sich nicht wie Picasso mit afrikanischen Masken von Flohmärkten oder dunklen Quellen eindeckten? Es ist der Verdienst vor allem der frühgeschichtlich interessierten Ethnologen und Kulturwissenschaftler wie Aby Warburg zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die konzertiert die Malereien der immer zahlreicher gefundenen Urzeithöhlen weltweit untersuchten und publizierten. Herausragend war hier der Berliner Völkerkundler Leo Frobenius. In bald dreißig Expeditionen erforschte er von 1905 bis 1935 mit seinen je unterschiedlich zusammengesetzten Künstler-Teams die Höhlenmalereien Europas (vor allem Skandinavien und die Petroglyphen des lombardischen Valcamonica), Afrikas (sein in der Frühzeit noch fruchtbarer Norden, aber auch Sudan und Kongo) und Asiens (dort vor allem Papua in Indonesien), wo auf teils abenteuerlichen, bis zu fünf Meter hohen Bambusgerüsten auf Augenhöhe mit den Felszeichnungen über achttausend gemalte Nachschöpfungen dieser überraschend vielgestaltigen Bilderwelten angefertigt wurden.