Ross Birrells Balkanroutenritt : Das Lieblingstier der Documenta
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3000 Kilometer legen die Reiter und ihre Pferde im Auftrag von Ross Birrell zurück - von Athen bis nach Kassel. Bild: dpa
Hoch zu Ross sind mehrere Reiter im Auftrag des schottischen Künstlers Ross Birrell unterwegs – bei der Aktion „Transit of Hermes“, die von Athen über die Balkanroute zur Documenta nach Kassel führt.
Seit vielen Jahren hat jede gelungene Documenta ihr Symboltier. Diese Besonderheit unterscheidet die Documenta von vielen anderen internationalen Kunstausstellungen: dass es da ein lebendes Tier gibt, an dem sich die ganze Theorie, die Idee der Großausstellung, mit wenigen Worten erklären lässt.
Im Jahr 1997 waren es Carsten Höllers und Rosemarie Trockels Schweine, die zum Ärger vieler Kunstfreunde recht kunstlos in einem Stall in Kassel ausgestellt wurden. Sie sollten zeigen, dass es bei der damals groß diskutierten „Relational Art“ nicht um die Produktion von Kunstwerken, sondern von Situationen geht, in denen sich unser Verhalten grundlegend ändert.
Pferde auf mehreren Kontinenten
Bei der vergangenen Documenta war es ein weißer Hund mit rosafarbenem Bein, ein Werk des französischen Künstlers Pierre Huyghe, der die Karlsauen wie einen genetisch manipulierten Zaubergarten voller bizarrer Fabelwesen aussehen ließ. Das Tier wirkte einerseits wie der Vorbote einer Zukunftswelt voller aparter Phantasiegestalten – aber auch ein wenig so, als sei er das Ergebnis eines nuklearen Fallouts oder fehlgeschlagener genetischer Experimente. Ungekannte Schönheit oder monströse Zukunft: Huyghes Hund ließ diese Frage offen.
Das Tier dieser Documenta ist das Pferd. Adam Szymczyk hat für die Documenta eigens Pferde gekauft, die der 1969 geborene schottische Künstler Ross Birrell, den Pferdefreunde nicht nur um seinen Vornamen beneiden, von professionellen Long-Distance-Reitern von Athen nach Kassel reiten lässt – und zwar mehr oder weniger auf der Route, die auch die Flüchtlinge nach Deutschland nahmen, als die Balkanroute noch offen war.
Außerdem wurde, für einen Film, ein Pferd nach New York geschickt, wo es über die gesperrte Fifth Avenue bis in den Central Park, die eingehegte Wildnis von Manhattan, galoppierte. Ein Pferd im Galopp in New York ist natürlich eine Anspielung auf die Geschichte der europäischen Migranten, die einst nach Amerika kamen und die Pferde mitbrachten. Dort wurden sie zum Symbol von Freiheit und jenem Cowboytum, das sich im Trump-Country gegen jede Form von Immigration wehrt – dabei waren ja die Cowboys und die Pferde Urfiguren der modernen Migration.
Birrells Projekt ist einerseits typisch für eine Kunst, die ihre Bilder im Spannungsfeld politischer Symbolik produziert – und andererseits auch typisch für eine Gegenwartskunst, die ein Re-Enactment ist, eine Wiederaufführung eines historischen Vorhabens. In diesem Fall ist es der Ritt des Schweizer Lehrers, Schriftstellers und Abenteurers Aimé Félix Tschiffely, der 1925 mit zwei Pferden von Buenos Aires aus nach Washington ritt, wo er 1928 eintraf. In Argentinien wird er seither als Nationalheld verehrt, der den bloß von Osten nach Westen zuckelnden amerikanischen Cowboys zeigte, was ein echter Langstreckenritt ist – und so das lateinamerikanische Selbstbewusstsein steigerte.
Typisch für diese Documenta ist der Ritt aber auch, weil er ein extrem körperliches Erlebnis ist. Adam Szymczyk ist kein glühender Anhänger dessen, was man Post-Internet-Art nennt, und er ist nicht für Dinge zu begeistern, die nichts als Elektro-Collagen aus Internetbildern sind. Schon sein „Parlament der Körper“ in Athen betonte die Rolle der physischen Präsenz der Stimme, des Körpers, die politische Konsequenz von Tausenden Körpern in der Stadt.
Seine Idee von Kunst ist dem Theater mit seiner Magie der Präsenz, dem Volksauflauf, der Demonstration näher als dem Internet – und ästhetische Erfahrung ist für ihn 2017 vor allem auch: gemeinsame körperliche Erfahrung. Auch für diese Überzeugung stehen die Pferde und die Menschen, die nach monatelanger Reise Anfang Juli in Kassel einreiten sollen.