Serpentine-Gallery-Pavillon : Die Stimmenvielfalt im Bau hörbar machen
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Architektin Sumayya Vally posiert im neuen Sommer-Pavillon am 8. Juni 2021. Bild: EPA
Geister der Vergangenheit: Für die Gestaltung des Sommer-Pavillons vor der Serpentine Gallery durchlief Summaya Vally monatelang die Straßen Londons. Die gesammelte Stimmenvielfalt will sie nun architektonisch zum Klingen bringen
Bislang haben die meisten Entwürfe für den alljährlichen Sommer-Pavillon auf der Wiese vor der Londoner Serpentine Gallery in Londons Kensington Gardens auf die umliegende Parklandschaft Bezug genommen. Doch der diesjährige Bau, der sich pandemiebedingt mit einjähriger Verspätung als zwanzigster Beitrag in die zur Jahrtausendwende mit Zaha Hadid gestartete Serie einreiht, ist in seiner Konzeption betont innerstädtisch. Das verdankt sich der Herkunft von Summaya Vally, Mitgründerin des südafrikanischen Architekturkollektivs Counterspace, die mit 31 Jahren die jüngste Auftragnehmerin der Serie ist.
In den letzten Zügen des Apartheidregimes in einer Township von Pretoria aufgewachsen, war die Enkelin eines indisch-muslimischen Einwanderers früh für die Instrumentalisierung von Architektur und Städtebau als Mittel zur Kontrolle sensibilisiert. Diese Erfahrung prägt seither den interdisziplinären Ansatz ihrer Praxis, dem unbeachteten historischen und soziokulturellen Hintergrund der Marginalisierten im städtischen Gewebe Ausdruck zu verleihen – mit Methoden, die jenseits der herkömmlichen, westlich zentrierten Baukultur liegen.
Vally versteht Architektur als „Verdichtung und Überlagerung von Epochen, Geschichten, Feldnotizen, Ausschnitten, Archäologien und forensischen Stichproben“. Vor der Pandemie hat sie monatelang die Straßen Londons durchlaufen und Archive nach fassbaren und unfassbaren Spuren und Stimmen durchforstet. Bei ihrem Stöbern an diasporischen Plätzen hat sie eine Fülle von Elementen gesammelt, die ihrem Pavillon einverleibt sind und die für das Bemühen stehen, tiefere Verbindungen zu Ort und Gemeinschaft anzuknüpfen. Friseursalons, Eckläden, Andachtsstätten wie die erste zweckgebaute Moschee, die 1926 in Südlondon eingeweiht wurde, aber auch Texturen von Wänden und Fassaden- oder Bürgersteigteile finden ebenso Niederschlag in dem Schmelztiegel der Zitate wie einige heute schon nicht mehr vorhandene Treffpunkte. Dazu zählen das kurz vor der Jahrtausendwende geschlossene Mangrove Restaurant in Londons Notting Hill, das ein Zentrum der karibischen Einwanderer war, und eine radikale interkulturelle Buchhandlung im Osten der Stadt.
Wie Geister der Vergangenheit
Die Elemente sind unter einem auf Säulen ruhenden Runddach capricciohaft zusammengefügt. Hier ein islamisierendes Kapitell, da das Fragment eines Türrahmens, einer Täfelung oder eines Treppenaufgangs. Das Ensemble ist aus Sperrholz, das mit schwarzen Platten verkleidet oder mit getöntem Mikrozement überzogen ist. Dahinter verbirgt sich ein tragender Stahlrahmen, der wiederum in ein Betonfundament eingelassen ist, das im Zusammenhang mit der selbst erklärten Verpflichtung zur Nachhaltigkeit für einiges Aufsehen sorgte.
Die Zitate wirken wie Geister der Vergangenheit. Sie sind nicht direkt erkennbar, sollen es auch nicht sein, zumal sie mitunter Momentaufnahmen verkörpern, wie das bei einer niedrigen Fläche zutrifft, die inspiriert wurde von einem Iftar-Abend vor einer Moschee, die Betroffene des großen Hochhausbrandes in Nord-Kensington vor vier Jahren unterstützt hat. Durch unterschiedliche Texturen und Färbungen des Mikrozements betont Vally die Stimmenvielfalt, die sie architektonisch zum Klingen bringen will. Das bestimmt auch die Raumaufteilung der rund 350 Quadratmeter umfassenden Fläche des Pavillons, der ein Café beherbergt und als Veranstaltungsort für das die Ideen hinter dem Pavillon aufgreifende Programm „Listening to the City“ dient.
Zur Förderung des Dialogs hat Vally aus den puzzleartig zusammengefügten Komponenten lauter Versammlungsecken für unterschiedlich große Gruppen gestaltet, als Mikrokosmos der multikulturellen Stadt. Dialog, Zugehörigkeit und Identität in Vergangenheit und Gegenwart stehen denn auch großgeschrieben in der Konzeption der Architektin, die das amerikanische Magazin Time im Februar als eine der hundert vielversprechendsten Führungskräfte auserkoren hat.
Vier Fragmente tragen die Botschaft in die Stadt
Als temporäre Einrichtung lässt sich der Serpentine Pavillon an sich schon als Symbol der Prozesse von Vergänglichkeit und Dislozierung deuten, die Summaya Vally mit ihrer Spurensuche versinnbildlichen will. Diesmal soll der Wirkungsbereich allerdings erweitert und die Wirkungsdauer durch zwei von Counterspace angeregte Initiativen verlängert werden. Zum einen tragen vier in ebenso vielen gemeinschaftlichen Kulturunternehmen mit migrantischer Ausrichtung angebrachte Fragmente des Pavillons die Botschaft in die Stadt. Außerdem sollen bis zu zehn Künstler oder Kollektive, die an der Schnittstelle zwischen Kunst, gemeinschaftlichem Engagement und räumlicher Politik arbeiten, durch ein mit 100.000 Pfund dotiertes Programm unterstützt werden.
Gedanklich trifft Summaya Vallys Pavillon den Nerv der Zeit, zumal in Hinblick auf die Kolonialismusdebatte. Leider wirkt die Struktur in ihrer Mischung aus Tempel, Agora und ägyptisierendem Art-déco-Stil trotz der vielen atmosphärischen Anklänge klobig, kühl und seltsam uncharismatisch, wie ein maschinelles Produkt. Dennoch ruft er Zeilen von T. S. Eliots „Vier Quartetten“ in den Sinn, in denen der Dichter über Zeit und Zeitlosigkeit reflektiert: „Fußtritte klingen nach, hier im Gedächtnis / Hier diesen Weg entlang, den wir nie gingen / Zu dieser Tür, die uns verschlossen blieb / Die Tür zum Rosengarten.“
Bis 17. Oktober. Ein Katalog soll im Laufe des Sommers erscheinen.