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Niki de Saint Phalle in der Schirn : Produktive Zerstörerin

Zergliederte Gipstänzerinnen, eingebettet in Öl: Niki de Saint Phalles „La Classe de ballet“, 1953 noch unter dem Namen ihres ersten Mannes gemalt. Bild: Niki Charitable Art Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Formen aus grauer Vorzeit, die im Jetzt noch lange nicht veraltet sind: Die Frankfurter Schirn zeigt alle Facetten des Werks von Niki de Saint Phalle.

          5 Min.

          Die Werke der Künstlerin Niki de Saint Phalle liebt oder hasst man. Dazwischen scheint es nicht viel zu geben, weil die 1930 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geborene und 2002 im kalifornischen San Diego verstorbene Malerin und Bildhauerin vollständig mit ihren populären „Nanas“ in quietschbunter Pop-Art verbunden wird und seit den Sechzigern die Fußgängerzonen der Welt mit diesen monumentalen und politisch zur Zeitstimmung passenden Plastiken dekoriert wurden. Oder gibt es etwa doch graubunte Zwischentöne?

          Stefan Trinks
          Redakteur im Feuilleton.

          Die Künstlerin selbst hat einmal bekannt, dass sie die „Nanas“ als massentaugliche und gut verkäufliche Ware vor allem deshalb produziert hat, weil sie damit andere, noch wichtigere Werke realisieren konnte. Man darf diese prilblumenbedeckten Riesentänzerinnen auch nach der ab heute öffnenden Ausstellung „Niki de Saint Phalle“ in der Frankfurter Schirn, wo sie etwa ein Viertel der hundert gezeigten Arbeiten ausmachen, durchaus als Kitsch ansehen. Man muss aber zu­gleich einräumen, dass in ihrem Frühwerk einige sehr starke Bilder sind, die im Kunstgeschichtskanon schon aus einem Grund nicht vergessen werden sollten: Sie bieten ein komplementäres Bild zur männerdominierten Kunst der Fünfziger.

          Ein Schießbild wie ein Dripping von Pollock: Niki de Saint Phalles „Tableau tir“ von 1961 Bilderstrecke
          Niki de Saint Phalle in Schirn : Destruktion und Kreation

          Blickt man mit Abstand auf die Kunst des Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg, zeichnen sich insbesondere Konturen dreier Strömungen ab: Archaismen, die genau jene in den zwölf finsteren Jahren als entartet stigmatisierten Formen überbetonen: urtümlich rohe, oft an kindlich-unbewusste Kritzeleien oder an Höhlenmalereien erinnernde Werke.

          Das zweite stilbildende Element sind Surrealismen und Kontingenzen aller Art, die Freuds und Jungs Lehren als probates Mittel künstlerischer Vergangenheitsbewältigung nach der Katastrophe des Kriegs einzusetzen suchten. Dazu trat eine Bildsprache des Ruinösen, die sich etwa in groben Sandschüttungen, Materialanhäufungen in Gemälden oder bewusst herbeigeführten Verletzungen der körperlich aufgefassten Leinwände manifestierte.

          Nach dem Koreakrieg war vor der Kubakrise

          De Saint Phalles frühe Gemälde, Zeichnungen und Assemblagen, die glücklicherweise nun in Frankfurt so ausführlich wie selten zuvor gezeigt werden, wie auch ihre Entwürfe für ein weicheres, humaneres Bauen weisen all diese Züge auf. Der erste Raum der Schau ist allein den „Schießbildern“ gewidmet, bei denen in einer Schubumkehr keine Soldaten mehr wie im Krieg, sondern eine Frau auf Männer feuert oder die Umstehenden beteiligt wurden an der Entstehung neuer Bilder: Eingebettet in einen leichentuchartigen Gipsfond, waren leviathanische Kompositkörper oder versehrte Bauten aus diversen Objekten, in die sie Farbbeutel eingipste.

          Beim Schießen auf die Reliefs ergaben sich durch Zufallstreffer auf die Farbbehälter Drippings und damit neue Bilder aus der Zerstörung der alten Form. So schoss die Künstlerin zur Achthundertjahrfeier von Notre-Dame de Paris 1963 auf ein gipsernes Abbild der Kathedrale mit da­rin intarsierten Tiffany-Colaflaschen und Figuren genauso wie auf Bilder von Männern. Ab 1961 entstehen diese Schießbilder als ihr lebensnotwendiger Versuch, das Trauma jahrelanger Vergewaltigung durch den Vater künstlerisch zu verarbeiten, doch eben auch überindividuelle, ja gesamtgesellschaftliche Ängste und Weltstimmungen. Das zeigt vor allem das erstaunliche, sechs Meter lange Schießbild „King-Kong“ von 1962, aus dem Gipsmasken Kennedys, Chruschtschows und eines gruseligen Santa Claus’ ragen.

          Und während sie erkennbar manches in ihren frühen Bildern vom Tachismus eines Paul Klee oder von Jean Dubuffet entlehnt (etwa die Assemblage „Stones“, eingegipste Kieselsteine und Tonfragmente oder „Zerbrochene Teller“ von 1958, das wie Spoerri ein Jahr später Fragmentiertes als „Tafel-Bild“ festklebt), sind die meisten Bildfindungen dieser Jahre aus einem Grund ureigen: weil sie zugleich von ihrem persönlichen Leiden wie auch dem der Welt erzählen. Prägend für diese Idee des Einbettens in Trümmerfonds war wohl eine erste Europareise der in den USA Aufgewachsenen 1948 mit den noch allenthalben sichtbaren Ruinen und Wunden des Kriegs. So zeugt das Gipsrelief „Green Sky“ mit einem eingebackenen Spiegel auch nicht von Narzissmus, sondern stellt eine Parallele zu Beuys dar, der in die Nachkriegs-Bronzetür des Kölner Doms seinen Rasierspiegel eingoß.

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