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Ernst Barlach in Ratzeburg : Die Schwerelosigkeit des Existenziellen

Gefasst: Der obere Teil von Ernst Barlachs Bronze „Tod im Leben“ von 1926. Bild: Bernd Boehm

Ist Ernst Barlachs Werk wirklich verstaubt, wie viele meinen? Das ihm gewidmete Museum in Ratzeburg zeigt einen Modernen mit Ideen für das Heute.

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          Was kann uns der Künstler Ernst Barlach heute noch geben, außer dass er seit Beginn des Jahres in Form einer Sonderbriefmarke zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstag Päckchen befördern hilft?

          Stefan Trinks
          Redakteur im Feuilleton.

          Während die Hamburger Reemtsma-Stiftung im Januar und das Dresdner Albertinum vergangenen Freitag große Retrospektiven zum Barlach-Jahr 2020 eröffneten, thematisiert das allein ihm gewidmete Museum in seiner Jugendstadt Ratzeburg ein Problem sehr offen: Barlach gilt heute vielen und gerade den Jüngeren als hoffnungslos verstaubt, als zu brav oder gar reaktionär. Seine Kunst findet sich häufig in Kirchen und ist Thema so mancher besinnlichen Sonntagspredigt, was in religionsfernen Zeiten sicher nicht zur neugierig offenen Wahrnehmung eines Künstlers beiträgt.

          Der „Schwebende“ als Zeppelin

          Ein zynisches Missverständnis der Rezeption: Nicht nur war Barlach vollkommen areligiös und als kommunistisch Eingestellter eher kirchenkritisch; gerade die Kirche verteidigte ihn nicht: Sein Magdeburger Ehrenmal etwa wurde 1934 auf Antrag des evangelischen Domgemeinderats in vorauseilendem Gehorsam entfernt. Allzu schnell wird hier also heute ein Künstler insbesondere von protestantischen Kreisen eingemeindet, in dessen allegorisch allgemein gehaltenen Titeln wie „Die Erschütterte“ oder „Die Trauernde“ allerlei Pseudoreligiöses hineininterpretiert wird und dessen Skulpturen im Zentrum von Besinnungsgottesdiensten und Meditationsrunden als Inbegriff des Kontemplativen geradezu „angebetet“ werden. Der in luftiger Höhe hängende „Schwebende“ in Güstrow beispielsweise, den Bundeskanzler Schmidt bei seinem DDR-Staatsbesuch im Jahr 1981 weiland Honecker bewusst aufs Auge drückte, gewinnt seine aerodynamisch ewige Form und sein beunruhigendes Potential als eine Art fliegendes Damoklesschwert dadurch, dass Barlach seinen Leib nach dem Vorbild der Weltkriegs-Zeppeline gestaltete. So wird dieser zum überzeitlichen Transmitter und zu einem säkularen Engel der Geschichte. In diesem Sinne auch spielten Barlachs Figuren eine nicht zu unterschätzende Rolle in den oppositionellen Bewegungen der DDR, die sich häufig in Kirchen trafen.

          Symbolträchtiges Damoklesschwert: Bundeskanzler Helmut Schmidt drang zum Abschluss seines dreitägigen DDR-Besuchs im Dezember 1981 auf einen Besuch des „Schwebenden“ im Dom von Güstrow.
          Symbolträchtiges Damoklesschwert: Bundeskanzler Helmut Schmidt drang zum Abschluss seines dreitägigen DDR-Besuchs im Dezember 1981 auf einen Besuch des „Schwebenden“ im Dom von Güstrow. : Bild: Picture-Alliance

          Nicht zufällig steht etwa seit dem 8. November 1994 an der Südseite der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg zu Ehren der DDR-Demokratiebewegung ein Abguss des „Geistkämpfers“ von 1928, eines Flügelwesens mit Schwert, das überlegen auf einem Wolf steht. Ebenso stimmt, dass Barlach von romanischer Kunst stark inspiriert war, wie sie ihm etwa im Ratzeburger Dom direkt vor Augen stand. Aber eben auch vom genauen Gegenteil, der heidnisch-slawischen Geschichte in und um Ratzeburg, wo er seine Jugendjahre verbrachte. Gleich im ersten Raum des dortigen Barlach Museums wird dieser bislang vernachlässigte Strang von Einflüssen auf sein Werk verfolgt. Wurde bisher die große Südrussland-Reise als Beginn von Barlachs Faszination für – auch abgründige – osteuropäische Motive angesehen, finden sich in der Ratzeburger Schau vielfältige Belege, dass es die in seiner Kindheit stattfindenden ersten Grabungen zur Slawenarchäologie waren, die ihm unvergesslich wurden. Ihn begeisterte in der Hochphase einer Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich überschlagenden Industrialisierung die von den holsteinischen Ausgräbern konstatierte Nähe der Slawen zur Natur, die sie als Muttergottheit verehrten, daher nachhaltig wirtschafteten und nicht wie Barlachs eigene Zeit die Lebensgrundlagen verseuchten. Der zeitlebens an Materiellem Uninteressierte verschlang die archäologischen Jahresberichte, denen zufolge es bei den Slawen ein kommunitäres Teilen des Besitzes und die gemeinsame Bewirtschaftung der Felder gegeben habe.

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