Ernst Barlach in Ratzeburg : Die Schwerelosigkeit des Existenziellen
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Selbst die ausgestellte „Hexe Baubo“ aus seiner Holzschnittserie zur „Walpurgisnacht“ von 1923 ist so ein Beispiel: Verhutzelt kauernd wie die viel spätere „Frierende Alte“ von 1937 (die stets als später Reflex der Russland-Reise angesehen wurde) reiht sie sich sowohl ein in Barlachs Beschäftigung mit slawisch-heidnischen Überlieferungen wie auch in seine früh schon entwickelte Privatikonographie der Ausgestoßenen, gesellschaftlichen Randgestalten und Bettler, denen es jedoch keineswegs an Stolz und Beharrungsvermögen gebricht. Zeitlos aktuell. Nach Einscannen des QR-Codes lassen sich dann auch zur Hexe wahlweise Sphärenklänge der isländischen Mysto-Sängerin Björk oder andere Stücke und Hintergrundinformationen aufrufen.
Wie überhaupt in der vollständig überarbeiteten und aktualisierten ständigen Ausstellung in Ratzeburg viel auf ansprechende mediale Vermittlung gesetzt wird, was bei der Raumknappheit in dem Häuschen aus dem Jahr 1840 als Nebeneffekt Platz für Saaltexte spart.
Ein Zeitstrahl im letzten Parterre-Raum lässt komplexe eigenaktive Verknüpfungen zwischen Biographie, Werk sowie Kulturgeschichte und allgemeinem Zeitgeschehen zu. Zugleich wird erstmals in dieser Ausführlichkeit die Frühphase des Künstlers beleuchtet. Als früh ökologisch Interessierter zeigt sich Barlach, wenn er in den vollständig erhaltenen und von Ulrich Bubrowski vorbildlich edierten Tagebüchern und Tausenden von Briefen schon im Jahr 1896 das durch eine Textilfabrik rot verfärbte Wasser des Rheins als gleichsam apokalyptische Umweltverschmutzung beschreibt. Oder wenn der von Beginn an für soziale Fragen Brennende schon in seiner Jugendstilphase anachronistisch Arme, Hässliche und Obdachlose zeigt.
Das gesamte Obergeschoss des Museums ist schließlich mit seinen sechs kleinen Kammern dem Autor Barlach und insbesondere dessen Theaterstücken gewidmet. Diese Gewichtung erklärt sich aus dem schlichten Faktum, dass Barlach Anfang der zwanziger Jahre deutlich bekannter als Dramaturg denn als Bildhauer war. Die Inszenierung des „Blauen Boll“ etwa mit Heinrich George war ein riesiger Erfolg. Die starke Betonung ist aber auch darin begründet, dass man des Korrektivs des Vielschreibers bedarf, um den Künstler vollständig zu verstehen: Seine endgültigen – im Gegensatz etwa zum ewig suchenden non-finito eines Rodin – bildhauerischen Formen, bei denen in die Hülle fester Konturen alles zum Titel denkbare hineingepackt ist und vor der Außenwelt abgeschirmt wird, waren nur durch seine Theaterstücke möglich: In ihnen buchstabiert und formuliert er durchaus weitschweifig Ideen, künstlerische Konzepte und ganze soziale Konstellationen aus, die er dann in einer einzigen Figur extrem verdichtet präsentiert – eine Barlachfigur ist somit stets eine Matrjoschkapuppe für ein Welttheater in nuce. Kein Wunder, dass er es hasste, wenn Theaterregisseuren nicht mehr einfiel, als die Szenen ständig mit Tableaux vivants aus Barlachwerken aufzusiedeln. Die Aufführung seines 1919 uraufgeführten Erfolgsstücks „Der tote Tag“ in Berlin verliess er schnell, weil darin Schauspieler der Neuen Volksbühne penetrant hölzern seine Skulpturen nachstellten.
Wer Barlach gerade nach dem Durchmessen dieser zweiten Etage immer noch verstaubt nennt, müsste auch den großen Schriftsteller Uwe Johnson als antiquiert ansehen. Dieser schloss 1956 sein Germanistikstudium mit einer Arbeit über Barlachs Romanfragment „Der gestohlene Mond“ ab. Wenn das Manuskript, das seit langem im Suhrkamp-Verlag der Publikation harrt, dereinst veröffentlicht ist, wird sich trotz seiner Kürze die Qualität Barlachs in der Sicht Johnsons erweisen – oder eben schon vorher beim Besichtigen der Werke in Ratzeburg.
Barlach reloaded. Im Ernst Barlach Museum, Ratzeburg; ab sofort. Kein Katalog.