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Bremen zeigt Max Beckmann : Im Zirkus der Angst und der Lüste

Karneval, Varieté, Artisten, Clowns: Die Bremer Kunsthalle zeigt das „Welttheater“ von Max Beckmann – auch als einen Akt der Selbstbehauptung.

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          In einem Traumspiel, einer Theaterphantasie aus dem Geist Ionescos und Freuds, hätten sie alle ihren Platz gehabt: der König, der sich ein Messer in die Brust sticht, die Sopranistin, die ihn melodisch betrauert; das Mädchen mit der Katze, der Junge auf dem Schaukelpferd; die Krieger mit ihrer Beute, die Gefesselten und Verstümmelten, die Götter und die Argonauten. Aber Max Beckmann, der auch Dramatiker war, hat dieses Stück nicht geschrieben. Er hat es gemalt. Sein König wird deshalb seinen Sterbemonolog nie sprechen, die Klage, zu der die Sängerin neben ihm anhebt, wird niemals zu hören sein. Und die bulligen Männer, die unter den Bühnenbrettern in Beckmanns Triptychon „Schauspieler“ für Requisiten und Begleitmusik sorgen, werden in alle Ewigkeit lautlos ihr Handwerk verrichten, wie auf einem Filmstill in der Bewegung gebannt.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Max Beckmanns Triptychen, die Summe seines malerischen Lebenswerks, verbinden die mystische Ruhe des Altarbilds mit der schreienden Stille des Traums. Damit setzen sie eine Entwicklungslinie fort, die in Mitteleuropa nach der Spätgotik abgerissen war. Grünewalds Isenheimer Altar zählte zu den prägenden Erlebnissen des jungen Beckmann. Dessen christliche Figuren ersetzte er durch heidnische, die Engel durch Varietémusiker, die biblischen Teufel durch die Folterknechte seiner Zeit. Nur manchmal scheint die alte Ikonographie durch das moderne Maskenspiel wie die Urschrift eines Palimpsests hindurch.

          Auf dem linken Seitenflügel der „Schauspieler“ spricht Judas mit einem Soldaten. Zwischen die beiden hat der Maler eine Marienfigur und dahinter, verdeckt, einen Jesuskopf gesetzt. Der Zeitbezug der Szene ist mühelos lesbar. Das Triptychon entstand 1941/42 in Amsterdam, wo der Maler unter deutscher Besatzung lebte. Die Denunziation war der tägliche Albtraum des Emigranten. Wohin sich Beckmann sehnte, verrät die Skizze eines Mannes, der unter der Judasfigur kauert: Er liest die „New York Times“.

          Die Allegorie von Beckmanns Exil

          Zwei von Beckmanns Triptychen, die „Schauspieler“ aus Harvard und die Washingtoner „Argonauten“, sind jetzt in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen und des Potsdamer Museums Barberini zu sehen. Sie markieren den Höhepunkt und den Schlusspunkt der neunteiligen Serie. In den „Argonauten“ ist die Spannung, die dem frühen Triptychon seine zwingende Form gab, verschwunden. Links sitzt eine Pin-up-Schönheit mit Schwert einem bärtigen Maler Modell, rechts machen ein paar Frauen Salonmusik. Die mittlere Tafel zeigt Jason, Orpheus und den Meeresgott mit mythologischen Attributen: Horusfalke, Leier, Himmelsleiter. Die Figuren und Requisiten wirken beliebig, dekorativ. Die nackten Jünglinge, denen Beckmann am Tag vor seinem Tod im Dezember 1950 den letzten Schliff gab, könnten bei einem Sportfest auftreten. In Amerika, in das er drei Jahre zuvor endlich hatte ausreisen dürfen, wurde Beckmann hofiert, und er gab dem Publikum, was es verlangte. Erst jetzt fing seine Kunst an, Theater zu spielen. Die Malerszene wirkt wie eine Selbstparodie. Die Sängerinnen reißen die Münder auf, doch das Bild bleibt stumm.

          In der Bremer Kunsthalle, die ihre eigenen Beckmann-Bestände durch großartige internationale Leihgaben ergänzt hat, spielen die Triptychen fast eine Nebenrolle. Sie reihen sich ein in eine Parade von Sujets, die den historischen Bogen der Chronologie ersetzt. Die Entwicklung von Beckmanns Malerei tritt in der Ausstellung hinter die Betrachtung des Immergleichen darin zurück: Zirkus, Theater, Karneval, Varieté; Artisten, Tänzer, Musiker, Clowns. Für diesen Perspektivwechsel bieten die Kuratoren gewichtige Zeugen auf. Der Schriftsteller Stephan Lackner, Beckmanns langjähriger Mäzen, sprach 1938 in einem Essay vom „Welttheater“ in den Bildern seines Freundes. Beckmann selbst griff, wenn er über sein Künstlertum nachdachte, zu Bühnenmetaphern. Die Rolle, die er spiele, sei „die schwierigste aber auch die großartigste“, schreibt er 1940 in sein Tagebuch. Im Jahr zuvor beschwört er die „unbekannten Regisseure“ des Bombenkriegs. Dem Zirkus hält er bis zuletzt die Treue: „Abschiedsvorstellung. – Die Flieger brummen“, notiert er im Februar 1944. In Amerika erlebt er den „schönsten und großartigsten Zircus den ich je gesehen“ bei Barnum & Bailey.

          Trotzdem hat es immer etwas von Setzkasten, wenn eine Ausstellung, wie hier, nach Motiven statt Werkphasen sortiert ist. Der „Zirkuswagen“ aus dem Frankfurter Städel hängt deshalb an der falschen Stelle. Das Bild, 1940 gemalt, gehört in die Kriegszeit in Amsterdam, zwischen das finstere „Selbstbildnis in der Bar“ und die verhärmten „Les Artistes mit Gemüse“. Es ist die Allegorie von Beckmanns Exil: Tigerkäfig, Zirkusdirektor, Clown und Kunstreiterin sind die Dachstube am Rokin 58 gepfercht, wo der Maler sein Atelier eingerichtet hat. Im Hintergrund, vor der geschlossenen Dachluke, sieht man Beckmanns Kopf hinter einer Zeitung. Er liest, er träumt, das ist sein Draht zur Welt.

          Ein Varieté der Ungewissheiten

          Die Zirkusmetapher ist auch ein Akt der Selbstbehauptung. Beckmanns Kunst politisiert sich eben nicht so ostentativ wie die von Dix und Grosz, sie bespielt weiter ihre eigene Bühne, auf der sich die Zerstörung Europas als atmosphärische Verdüsterung spiegelt. Das „Große Varieté“ von 1942 ist gerade deshalb groß, weil es so erbärmlich klein ist – der Feuerspeier scheint sich an seinen Flammen zu verschlucken, die Tänzerin hat bessere Zeiten gesehen, die zersägte Frau spült tagsüber Geschirr. Beckmann gelingt es, das Rot, Gelb und Himmelblau seiner Palette so anzuschwärzen, dass die Farben wie verbrannt aussehen. Seine Welt rollt sich von den Rändern her ein wie ein welkes Blatt.

          Glücklicherweise legt die Ausstellung ihr eigenes Konzept großzügig aus. Sonst dürfte das Porträt der Familie Heinrich Georges nicht hier hängen, auf dem Beckmann den Freund, der im Nazireich blieb und nach Kriegsende in russischer Lagerhaft starb, mit Frau, Kind, Hund und Kollegin zeigt, und auch die „Sinnende Frau am Meer“ würde fehlen, eins der wenigen Gemälde in Bremen, die nicht durch Bretterwände und Parkett gerahmt sind. Hier ist die Kulisse das offene graue Meer, die Bühne eine Terrasse, auf der Beckmanns Frau Mathilde sinnend in eine Glaskugel schaut – und in der Kugel schimmert, bläulich verschwommen, die Zukunft: das Varieté der Ungewissheiten, der Zirkus der Angst.

          Eine Ferne, zu der nur er allein Zugang hat

          Beckmanns Kunst wird zum Welttheater, weil in ihr Überdruck herrscht: an Formen, Figuren, Mythologien, an Drama und Groteske. Das gilt für das spätexpressionistische „Familienbild“ ebenso wie für den brutalen „Apachentanz“ von 1938 und die zehn Jahre später entstandenen „Cabins“, die danteske Höllenphantasie einer Atlantiküberfahrt. Hinter jedem Bullauge lauert hier das Unaussprechliche: eine Totenwache, eine Engelserscheinung, ein Mord, ein Albtraumgesicht. Am rechten Bildrand ist wieder eine Glaskugel zu sehen. In ihr fährt der Dampfer, dessen Inneres sich in der Vision des Malers aufgefaltet hat, ruhig durch die Nacht.

          Wo die Dichte solcher Traumgesichte nachlässt, rutschen Beckmanns Bilder ins Liebliche ab. Dann zeigt er Ballonfahrerinnen, die artig Sternenbannerfähnchen schwenken, Tänzerinnen mit prallen Schenkeln, eine Salondame in Gelb, eine Hinterbühnen-Idylle. Der größte aller Mythenmaler der Moderne musste sich seine Mätzchen immer wieder mühsam abgewöhnen. Dabei half ihm weniger seine Liebe zum Nachtleben, der die Bremer Ausstellung ein Denkmal setzt, als sein eigener Artistenstolz. Der König auf dem Schauspieler-Triptychon, dem der Maler seine eigenen Züge gegeben hat, blickt nicht auf die Bühne, er schaut in eine Ferne, zu der nur er allein Zugang hat. Dort liegt der Schlüssel zu den Rätseln, die Beckmanns Kunst uns aufgibt. Zum Glück finden wir ihn nie.

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