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Kunst-Biennale : Im Feuerschein der alten Bauernkate

Die „christlich“ genügsamen Traditionen des russischen Dorflebens haben sich am ehesten bei den Altgläubigen erhalten, die seit der Kirchenreform im siebzehnten Jahrhundert vom Staat verfolgt wurden und die sich der industriellen Wertschöpfung durch Flucht entzogen. Nach 1917 wanderten sie aus oder führten in den Tiefen der Taiga ein arbeitsames Leben ohne Geld, Technik und Medien. Die Fotografin Jelena Tschernyschowa hat diese aus der Geschichte Ausgestiegenen in ihren nördlich von Krasnojarsk gelegenen Siedlungsgebieten dokumentiert, freilich mit der Auflage, ihre Wohnrefugien nicht preiszugeben. Die österreichischen Künstler Markus Hanakam und Roswitha Schuller zogen sogar noch weiter in ein entlegenes jakutisches Dorf, um zu filmen, wie eine berühmte Schamanin sich mit Stimme und Maultrommel die Pferde- und die Vogelsprache anverwandelt.

Grenzen überschreiten

Das real existierende Dorf wurde erst durch den Kriegskommunismus geplündert, dann durch die Kollektivierung zerschlagen, inzwischen stirbt es durch Wegzug der Bewohner. Die Zahl der verlassenen Dörfer liegt bei 150.000. Der Moskauer Fotokünstler Danila Tkachenko, dessen Eltern vom Land stammen, hat viele dieser Geistersiedlungen aufgesucht und für sein Projekt „Heimat“ (Rodina) einige abgefackelt – wie es revolutionäre Bauern mit den Villen ihrer geflohenen Gutsherren taten, damit sie nicht zurückkehren konnten. Aus Tkachenkos apokalyptischen Fotos von brennenden Holzhäusern in schwarzer Nacht spricht russisches (Selbst-)Zerstörungspathos, sie kombinieren die Lakonie von Malewitschs Schwarzem Quadrat mit den Feuerritualen eines Pjotr Pawlenski oder Nikolai Polisski, erinnern aber auch an Brandbereinigungen durch Developer oder Industrieplaner.

Erinnerung an den Bürgerkrieg: Der Fotograf Danila Tkachenko setzt verlassene Dörfer in Brand.
Erinnerung an den Bürgerkrieg: Der Fotograf Danila Tkachenko setzt verlassene Dörfer in Brand. : Bild: Österreichisches Kulturforum

Die Serie, von der ein Bild in Krasnojarsk hängt und die in Gänze in der Berliner Galerie Kehrer zu bewundern ist, solle vom „Moder der Vergangenheit“ säubern, bekennt Tkatschenko. Doch in den Augen seiner Landsleute hat er eine rote Linie überschritten. Orthodoxe Christen und Heimatschützer wollen ihn verklagen. Ein westliches Gegenstück, nämlich unbewohnte Fassaden für Feuerzwecke, hat der österreichische Fotograf Gregor Sailer mit seinen Aufnahmen von Potjomkinschen Dörfern auf amerikanischen und europäischen Militärübunsgeländen beigesteuert. Das auf den Minister von Zarin Katharina zurückgehende Konzept ist im heutigen Russland, wo vor Putin-Besuchen baufällige Straßenzüge durch schmucke Fotoplanen getarnt werden, unverändert aktuell.

Kunstfest und Dauerschau

Einen stoisch kontemplativen Gegenakzent setzt die aus Petersburg gebürtige Bildhauerin Anna Zholud, die im moskaunahen Dorf Arinino ein Asyl für eigene und fremde Kunstwerke eingerichtet hat. Zholuds „Landschaft“ veranschaulicht durch dreidimensionale Umrisszeichnungen von Hütten, die sie aus Eisenstäben geschmiedet hat, ein Dorf, das an seinem Rand nahtlos in einen Friedhof übergeht. Der Künstler Leonid Tischkow, der in einem Dorf im Ural aufwuchs, huldigt der Armutskultur seiner Herkunft. Seine Installation „Alte Fahnen meiner lichten Heimat“ besteht aus einem Häuschen, das in geschnitzte Fensterrahmen gefasste Lichtboxen erleuchten, vor allem aber eine bunte Röhrenleuchte am Boden, deren Schneckenform traditionelle Fleckerlteppiche zitiert.

Eingebettet ist das Kunstfest in die ständige Schau, die dieses einzigartig multiperspektivische Haus angesammelt hat. Moderne, aber auch sowjetische Gemälde, Gebrauchsgegenstände, Kommunalwohnungsmöbelstücke, ein dörflicher Gedenkaltar zu Stalins Tod vergegenwärtigen, eingepasst in eine Innenarchitektur aus Absperrungen und engen Korridoren, die tiefen Wunden, die durch die Revolution gerissen wurden, ebenso wie den Enthusiasmus, der sie trug.

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