Kolumne „Bild der Woche“ : Mensch als Möglichkeit
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„Verwandlungen durch Licht“ heißt die Serie von 1936, aus der dieses Fotos stammt. Bild: Fotos Nachlass Helmar Lerski, Museum Folkwang, Essen
Im Jahr 1936 hat der Fotograf Helmar Lerski 175 Porträts des Berner Ingenieurs Leo Uschatz auf seiner Dachterrasse in Tel Aviv gemacht: Zwei Juden loten die heroische Ästhetik aus, die sich zu dieser Zeit in Europa gegen sie wendet.
Kaiser Augustus? Adonis? Als Skulptur – und dann als Foto für die Ewigkeit? Als ich die ersten Köpfe aus der Serie „Verwandlung durch Licht“ von Helmar Lerski gesehen habe, war ich ebenso von ihrer Schönheit verblüfft wie verunsichert darüber, was ich da eigentlich sah. Das Gesicht schien sich zu verwandeln, wie im Schlaf: Von majestätischer Hochmut einer antiken Statue – mit ihrer programmatischen Männlichkeit, wie sie nur Bronze und Marmor übertragen können – bis hin zu einem vor Hitze oder Begierde ermüdeten und sinnlichen Träumer. Von einem „Ausgangsfoto“ dieser Serie blickte mich ein rothaariger Mann mit deutlich semitischen Zügen an. Aber schon das nächste Foto löschte diesen Eindruck. Je mehr Gesichter ich anschaute, desto weniger konnte ich glauben, dass sie alle einer Person gehörten.
Der Kameramann und Fotograf Helmar Lerski hat im Jahre 1936 insgesamt 175 Fotos von dem Berner Ingenieur Leo Uschatz gemacht. Er fotografierte ihn unter der prallen Sonne auf der Dachterrasse seiner Wohnung in Tel Aviv. Nicht das übliche nördliche Licht der Porträtkünstler, sondern Licht „von überall her“ hat Lerski als Instrument benutzt (und bis zu sechzehn Spiegel dazu), um wie ein Bildhauer aus seinem Material Gesichter zu meißeln. Was man auf diesen zwei Bildern nur ahnt, entfaltet sich in weiteren Metamorphosen.
In dieser Serie findet man keine feste Identität, sondern grenzenlose Vielfalt: Man „erkennt“ Napoleon und Apollo, Mephisto verdunkelt sich zu einem Bergmann, und dann trifft man auf die Totenmasken eines lebendigen Ingenieurs. Arrogant, dämonisch, abwesend, niemals lächelnd – das Gesicht bleibt ein Rätsel. Manchmal scheinen die Gesichter den olympischen Sichtweisen von Leni Riefenstahl oder sogar der faschistischen Ästhetik von Arno Breker nahe. Die nordischen Nasenflügel, das starke Kinn – es fehlt nur der Helm. Zwei Juden auf einem Dach in Tel Aviv loten 1936 die heroische Ästhetik aus, die sich zu dieser Zeit in Europa gegen sie wendet.
Helmar Lerski wurde als Israel Schmuklerski 1871 in Straßburg in einer polnisch-jüdischen Familie geboren. Er wuchs in Zürich auf, ging mit zwanzig Jahren nach Amerika, wo er in deutschsprachigen Theatern Charakterrollen spielte. 1915 kommt er nach Berlin und wird in den zwanziger Jahren als Experte für Spiegeltechnik und Kameramann schnell bekannt, in „Metropolis“ von Fritz Lang ist er für Spezialeffekte zuständig. 1931 produziert er das Fotobuch „Köpfe des Alltags“, das auf den ersten Blick wie eine Variation von August Sanders „Antlitz der Zeit“ (1929) erscheint. Auch Lerski fotografiert Kutscher, Zimmermädchen und Schlosser, aber alltägliche Umgebung, Einordnung nach Berufen und Beschäftigungen wie bei Sander interessieren Lerski nicht. Er fotografiert die „nackten“ Köpfe in Übergröße, stellt sie ins Licht, jenseits der Attribute ihres Berufs oder ihres Status.
Dadurch entsteht eine Anthropologie, und zwar eine sehr theatralisierte. Die Menschen werden zu Schauspielern, die durch das dramaturgische Licht des Fotografen zu den verschiedensten Rollen fähig sind. Auch im Gesicht eines Bettlers kann ein Dichter entdeckt werden. Das Gesicht bietet plötzlich „unergründliche Möglichkeiten“ (Kracauer), auch die Möglichkeit, radikal anders zu sein als sein Besitzer.
Eigentlich folgt Lerski der inneren Logik seiner Kunst – der Logik des Lichts. Sogar seinen Umzug nach Palästina 1931 erklärt er mit den besseren Lichtverhältnissen. Unter diesem Licht kommt alles zum Vorschein: sein eigenes Schauspiel, sein expressionistischer Kameramannblick und seine Überzeugung, dass man einen Menschen mit nur einem einzigen Bild nicht wiedergeben kann. In der „Verwandlung durch Licht“ verliert das Gesicht seine Objektivität, wird in eine unfassbare Erscheinung verwandelt. In dieser Metamorphose gibt es ein ganzes Spektrum von Rollen, aber keine Psychologie. Der Kopf verhält sich wie ein Planet, und der Fotograf sorgt dabei für das dramatische demiurgische Himmelslicht.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die Begeisterung für die menschliche Physiognomie mit jedem Jahrzehnt. Man glaubte, man könne mit der Fotografie den Menschen erfassen, definieren, verstehen. Die Fotografie dokumentierte verletzte Gesichter des Krieges, die Krankheiten, fixierte soziale, ethnische und familiäre Zugehörigkeiten. Und irgendwann traf die physiognomische Manie auf die Rassenkunde.
Die Studie von Lerski scheint keine Suche nach dem „wahren“ Gesicht zu propagieren, sondern die Unfassbarkeit zu reflektieren, die Schönheit der aktiven Beobachtung, die auch das Fiktive in einem Gesicht erzeugt. Er schnitzt die unerwarteten Möglichkeiten aus den festgelegten Zügen, studiert das Irreale im realen Gesicht. Und so erscheint der Mensch als eine komplexe und nicht reduzierbare Mischung aus Realem und Fiktivem – zumindest in der Kunst.