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Guy Bourdins Fotografien : Die Revolte schoss ihm selbst ins Blut

Guy Bourdins Blick auf die Welt, die Frauen und den Konsum Bild: The Guy Bourdin Estate, Courtesy of Louise Alexander Gallery

Der Kunstverein Talstrasse in Halle zeigt das Werk des französischen Fotografen Guy Bourdin. Bei aller Faszination: Warum schweigt die Ausstellung über die Umstände seiner Arbeit?

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          Dieses Foto könnte zur Bebilderung einer aktuellen politischen Kampagne taugen, etwa einer gegen Femizide oder fürs Recht auf sexuelle Selbstbestimmung: Eine Frau tritt einem auf dem Boden liegenden Mann auf die Hand und verhindert damit, dass er einen vor ihm liegenden Revolver erreicht. Im Hintergrund steht eine schweigend staunende Menschenmenge, und das Ganze spielt sich ab vor einem Kinotheater, dessen Leuchtreklame die Vorführung von zwei Filmen ankündigt: „Caught in the Act“ (was zu übersetzen wäre als „Auf frischer Tat ertappt“) und „The Incredible Sex Revolution“, dessen „blushing color“ gepriesen wird, also eine Farbgebung, die das Publikum erröten lassen soll. Und so sieht auch dieses Foto selbst aus: Es ist in Tiefrot gehalten. In Zornesrot.

          Andreas Platthaus
          Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.

          Aufgenommen hat es der französische Fotograf Guy Bourdin, und zwar nicht heute, sondern 1968. Damals liefen die beiden von dem abgebildeten Kino annoncierten Filmchen tatsächlich auf amerikanischen Leinwänden, als Teil einer in den sechziger Jahren dort grassierenden Welle von angeblichen Aufklärungsfilmen, die in Wirklichkeit allein auf die voyeuristische Schaulust des männlichen Publikums spekulierten.

          Woody Allen hat vor dem Hintergrund des Erfolgs dieses Sexploitation-Prinzips 1972 seine berühmte Persiflage „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ gedreht, aber auf Bourdins Aufnahme bekommen die seichten Werke ein durchaus revolutionäres Potential zugesprochen – durch den emblematischen Tritt der Frau auf die Hand des Mannes. Nur hat Bourdin dieses Bild nicht als politisches Manifest inszeniert, sondern als Motiv einer Werbekampagne für die sündhaft teuren Produkte des französischen Damenschuhherstellers Charles Jourdan. Vermittelt hatte ihm den Auftrag Karl Lagerfeld.

          Keine politische Kampagne, sondern Werbung für den Damenschuhhersteller Charles Jourdan
          Keine politische Kampagne, sondern Werbung für den Damenschuhhersteller Charles Jourdan : Bild: Guy Bourdin

          Dessen fotografisches Schaffen wird derzeit erfolgreich im Museum Moritzburg in Halle an der Saale gezeigt, aber wer einen Meisterfotografen am Werk sehen will, sollte in der Stadt lieber den Kunstverein Talstrasse aufsuchen. Der hat sich in den letzten Jahren immer wieder mit thematisch originellen flankierenden Ausstellungen zu großen Schauen der Moritzburg hervorgetan, und diesmal ist die Wahl eine besonders glückliche, weil Bourdins Bildersprache zwar stilprägend für die jüngere Modefotografie geworden ist, er aber von der Persönlichkeit her das genaue Gegenteil zu Lagerfeld darstellt: Der 1928 in Paris geborene Bourdin scheute den Glamour der Branche. Öffentlichkeit war ihm ein Greuel, und die Verleihung des höchsten französischen Staatspreises für Fotografie lehnte er 1985 ab.

          Diese aus dezidiert politikskeptischer Überzeugung resultierende Verweigerung setzt sich bis heute in seiner Familie fort: Bourdins Sohn Samuel, der sich um den Nachlass seines 1991 gestorbenen Vaters kümmert, musste bei der Vorbereitung der halleschen Ausstellung erst einmal seine Aversion gegen die Schirmherrschaft der französischen Botschafterin in Deutschland überwinden. Dann aber lieh er großzügig aus; rund 150 Fotografien aus allen Schaffensphasen Guy Bourdins sind in den Räumen des Kunstvereins zu sehen.

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