Musée d’art et d’histoire : Ugo Rondinone stellt Genfer Museum auf den Kopf
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Wachsam verteidigungsbereit, doch auch ermattet: Hodlers „Krieger“ Bild: MAH
Im Genfer Musée d’art et d’histoire, dem zweitgrößten Museum der Schweiz, bekommt der Künstler Ugo Rondinone eine Carte blanche – und verzaubert den Ausstellungsraum.
Man beleidigt Ugo Rondinone nicht, wenn man ihn einen Romantiker nennt. Der 1964 im schweizerischen Brunnen geborene und in New York arbeitende Künstler ist nicht erst aktuell einer der innovativsten überhaupt. Rondinone wurde bekannt dafür, alteingeführte Sichtweisen durch radikale Perspektivwechsel auf den Kopf zu stellen.
Die Vielfalt seiner sinnlichen Zugänge an Formprobleme ist erstaunlich, wie die große Frankfurter Schau in der Schirn gezeigt hat (F.A.Z. vom 24. Juni 2022), er lehrt unaufdringlich, längst vergessene Denkmäler wie das spektakuläre und monumentale, dennoch seit Jahrzehnten übersehene Ostblockmal in der „Manifesta 2022“-Stadt Pristina neu zu betrachten (F.A.Z. vom 20. August 2022).
Selbst in scheinbar abgeschlossenen Sammelgebieten der Kunstgeschichte wie der inzwischen etwas ausgetretenen Land Art weitet er – so in seinen monumentalen „seven magic mountains“ in der Wüste von Nevada – nicht nur geographisch die Kunstkampfzone aus, vielmehr dreht er oft das Fernglas um und verwandelt es in eine Lupe, die den Blick auf übersehene Details bündelt. Dieses „Umstürzen, um zu bewahren“ wendet er aktuell mit Bravour im zweitgrößten Museum der Schweiz an.
646 Stück aus der neuntausend Exponate von der Urzeit bis in das Erbauungsjahr 1910 zählenden Ständigen Sammlung, die wie in nahezu jedem Museum der Welt gerade aufgrund ihrer Permanenz unter Besucherschwund litt, arrangiert er auf sechstausend Quadratmetern aufregend neu nach seinen Kriterien. Nun hätte Rondinone alle Räume mit seinen Arbeiten füllen können, beschränkt sich aber klug auf einige wenige Eigenwerke. Ebenso hätte das Umstürzlerische den zuvor nach Epochen, Stilen und anderen Parametern der Kunsthistorie geordneten Werken durchaus rohe Gewalt zufügen können.
Weil er sich aber bei allen Neukompositionen strikt an künstlerische Maßstäbe hält, entspricht das entstandene Gesamtkunstwerk „When the sun goes down and the moon comes up“ letztlich den Entstehungsbedingungen der Ausgangskomponenten. Das Genfer Musée d’art et d’histoire (MAH) wird so wieder zu einer Kunstkammer, der aus der Renaissance stammenden Mutter aller Museen.
Schon der Titel verheißt Zyklisches wie Gegensätzliches, indem mit Tag und Nacht die zwei grundverschiedenen „metaphorischen Augen“ bestimmt werden, mit denen wir Rondinone zufolge auf die Welt schauen – und nicht zu vergessen ein für die Kunst überragend wichtiges Interim. Denn zwischen den Antagonisten Sonne und Mond liegt die blaue Stunde, das Lieblingsmomentum der Romantiker. Nicht mehr Tag, noch nicht Nacht, ist sie bevorzugter Beginn von Feiern und Kulturveranstaltungen wie auch Zeitpunkt hoher künstlerischer Gestimmtheit. Dieses atmosphärische Wechselbad der Seele entlang der sieben Regenbogenfarben seiner Arbeit „love invents us“ von 1999 – dimmende Lichtfilter, die bereits am Tag im Museumsinneren die nächtliche Stimmung von draußen erzeugen – gelingt es Rondinone in das MAH zu verpflanzen, indem er die sehr unterschiedlich großen dreizehn Säle mit den ihm zentralen Themen Liebe und Tod, Natur und Ästhetik, Introspektion und Blick in die weite Welt füllt.