Matisse in Mannheim : Frauen, Muster, Pflanzen
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Die Vielfalt der Welt, in eine einzige Raumschicht gepackt: Die Kunsthalle Mannheim zeigt, wer und wen Henri Matisse auf seinem Weg zur schrittweisen Vereinfachung inspiriert hat.
Bei manchen Ausstellungen lohnt es sich, von hinten zu beginnen. In der Mannheimer Kunsthalle mit ihren zwei gleichermaßen nicht gesondert ausgeschilderten Zugängen zur Schau „Inspiration Matisse“ geht dies sogar, ohne gegen einen vorgeschriebenen Ausstellungsparcours zu verstoßen. Und es lohnt sich.
Rollt man das Feld also chronologisch von hinten auf, beginnt man mit den Gemälden der zwanziger Jahre wie „Frau mit Mandoline“ von 1921/22, dem „Interieur mit Wellensittichen“ von 1924 oder der „Odaliske mit grauer Hose“ zwei Jahre später – buntfarbige Bilder, in denen Vorder- und Hintergrund verschmelzen. Mit Frauen, die so starr wie Statuen sitzen oder still musizieren und zum Tapeten- oder Teppichmuster werden. Bilder also, die ein Blinder als Matisse identifizieren könnte.
Startet man dagegen mit dem linken, eigentlichen Eingang, stellt sich die Sache wesentlich komplizierter dar: Die ersten tastenden Schritte im Atelier seines Lehrmeisters, des Pariser Symbolisten Gustave Moreau, sind so ungelenk und düster, dass man den Ausbilder bereits des Geizes schelten will, da er offenbar am Licht im Atelier gespart hat: Ein „Seesturm, nach Ruisdael“ von 1894 versumpft bis auf ein surreales Schlaglicht auf den Wellen, das durch ein in den ansonsten vollkommen verfinsterten Himmel gerissenes Lichtloch fällt. Das ebenso fenster- wie lichtlose „Atelier von Gustave Moreau“ von 1895 verblüfft durch das Auf-den-Kopf-Stellen der Größenverhältnisse und eine radikal holzschnittartige Vereinfachung seines Figurenpersonals. In der Mittelachse steht, beinahe die gesamte Bildhöhe einnehmend, ein weibliches Nacktmodell. An den Bildrändern und genau hinter dem Modell postiert der damals sechsundzwanzigjährige Matisse jeweils Malschüler vor ihren Staffeleien. Weder seinen steif und hölzern wie Gliederpuppen gegebenen Malerkollegen noch dem Akt schenkt er ein Gesicht, wohl aber lehnt er surrealerweise eine riesige Holzkrücke an ihren vor den Körper gezogenen Arm.
Das Einzige, dem sein ganzes Augenmerk gehört, ist das Licht aus einer unsichtbaren Quelle auf Rücken und Gesäß der Frau. Allerdings setzt er das Licht in stark vereinfachten geometrischen Streifen auf die Körper, so dass selbst die rundlichen Formen kantig wirken. Durch die kluge Auswahl dieser beiden Bilder am Einstieg versteht man das berühmte Wort des Lehrers Moreau, dass Matisse die Kunst einmal „sehr viel einfacher machen“ würde. Wie so oft in der französischen Sprachdiplomatie ist das nicht nur ein Kompliment.
Das um 1915 entstandene „Stillleben mit Früchten“ könnte, abgesehen von dem aufwendiger in Grün, Blau und Schwarz ornamentierten Hintergrund, ebenso von Cézanne gemalt sein wie viele der frühen Landschaften von Matisse mit auffällig kubischen Hauswürfeln im Hintergrund, so etwa „Garten in Issy“ von 1917 mit seinen zusätzlich geometrisierten Kugelbäumen und Parkwegen in Rotbraun. Mehrfach will man vor besonders lichtdurchfluteten Landschaften Matisse preisen, um dann durch das Lesen der Beischrift zu realisieren, dass es sich um einen André Derain, Maurice de Vlaminck oder Kees van Dongen handelt. Auch eines der faszinierendsten Matisse-Bilder, „Akt im Wald“ von 1906, auf dem der große Vereinfacher einen besonders zarten Sandton erzeugt, indem er an mehreren Stellen die Farbe schlicht weglässt und den Blick auf die ungrundierte beige Leinwand freigibt, ist ohne das Schielen auf den befreundeten Derain und auf Cézanne nicht denkbar.