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Fotokünstler Thomas Struth : Nehmen wir nun anders wahr?

  • -Aktualisiert am

Thomas Struths „Crosby Street, Soho, New York“, aufgenommen 1978 Bild: Thomas Struth

Er fotografiert seit Jahrzehnten bevorzugt menschenleere Straßen und Plätze. Jetzt sind Fotos wie seine plötzlich allgegenwärtig: Ein Gespräch mit dem Fotokünstler Thomas Struth.

          4 Min.

          Sie haben jahrzehntelang menschenleere Städte fotografiert, nun sehen wir täglich Bilder leerer Straßen und Plätze. Wer Ihr Werk kennt, denkt unweigerlich an die Verlassenheit in Ihren „Unconscious Places“.

          Die gegenwärtige Situation hat allerdings mit meiner damaligen Motivation nichts zu tun. Jemand hat in meinen Bildern Ende der achtziger Jahre einmal so etwas wie „die Welt nach der Neutronenbombe“ gesehen. Schrecklich.

          Das mag neben der Spur liegen, sieht aber doch die enorme Intensität, die von Ihren Bildern ausgeht.

          Ja, das stimmt. Rückblickend wird man später vielleicht fragen können, ob jemand die Architektur, die wir gebaut haben, unter den jetzigen Bedingungen anders wahrgenommen hat als sonst. Mich hat schon immer interessiert, Architektur als Antlitz zu verstehen, abgesehen von der Zuweisung der üblichen Verdächtigen – Bauherren, Architekten, Planer, Baufirmen. Mir ging es darum, das kollektive Unbewusste des städtischen Raums darzustellen. Das wird in den Bildern nur sichtbar durch die Abwesenheit von Menschen. Sie sind ja durch die Ausstrahlung der Architektur unvermeidbar mit eingebettet. Ich würde im Hinblick auf die heutige Situation eher eine Parallele sehen zu der Stille in meinen Bildern. Nach der Überhitzung und Zuspitzung im privaten und globalen Leben, wovon vieles doch Ablenkungsmanöver ist, kann ich als Idealist das jetzt erzwungene Innehalten willkommen heißen, als eine Möglichkeit, Dinge anders wahrzunehmen.

          Sie waren 1978 in New York, dort ist eine Ihrer bekanntesten Arbeiten entstanden: „Crosby Street“, eine düstere Straßenschlucht mit dreckigem Schnee, könnte ein Still aus einem Gangsterfilm sein. Das Bild ist eher untypisch für Ihre „Unconscious Places“, oder? Stört es Sie eigentlich, dass gerade dieses Foto so prominent geworden ist?

          Nein, das ist so ähnlich wie mit meinem Bild vom Pantheon. Ich finde, es gibt komplexere Bilder von mir, aber wenn sich Leute einmal auf bestimmte Werke geeinigt haben, folgen alle dem Sog. Das gibt es auf allen Gebieten der Kunst. Bei „Crosby Street“ war es ein Glücksfall, dass ein Fleetwood Continental, glaube ich, vielleicht war es auch ein Buick, an der nächsten Kreuzung stand, ein klassisches Gangsterauto jedenfalls, und etwas weiter ein gewöhnliches Postauto, das genaue Gegenteil, und hinter den schmutzigen Schneehaufen der einzige Bau von Louis Sullivan in Manhattan, was ich damals nicht wusste. Es war an einem Sonntagmorgen gegen neun. Ich lebte dort für einige Wochen im Loft von Bernd und Hilla Becher und habe auf ihren Sohn aufgepasst.

          Alfred Döblin hat in Bezug auf August Sander von „Soziologie ohne Text“ gesprochen. Können Sie damit in Bezug auf Ihr Werk etwas anfangen?

          Schon, aber wenn man die vier Bereiche Politik, Psychologie, Soziologie und Philosophie nimmt, dann finde ich Soziologie wegen ihrer großen Nähe zur Statistik am wenigsten aufschlussreich für mich. Ein Bewusstsein für psychologische Zusammenhänge zu entwickeln halte ich für wichtig, um das eigene Sein und das Verhalten von Gruppen zu verstehen. Das Unbewusste unserer Generationen wurde in der Nachkriegszeit ja sehr stark geprägt von den Taten, Konsequenzen, den Erfahrungen und Verdrängungen unserer Elterngeneration. Psychologie spielt aber auch in der heutigen Politik eine große Rolle. Den Titel „Unbewusste Orte“ für die Architekturbilder habe ich gewählt, um Missverständnissen vorzubeugen und klarzustellen, dass es mir nicht per se um Städtebau oder Baustile geht.

          Thema Psychologie – Sie fotografieren seit langem auch Familien. Auch ein Thema, das in Zeiten von Social Distancing plötzlich auf eigene Weise aktuell ist. Was bedeutet Familie im Moment für Sie persönlich?

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